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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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Leib«, pflichte ich bei. »Und nachdem deine Mama ihm ein Strandlaken gegeben hatte, das sie zufällig bei sich trug, damit er sich etwas anziehen konnte, erklärte er ihr, dass er durch die Zeit reise, und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm.«
    »Weil es stimmte!«
    »Ja, schon, aber woher sollte sie das wissen? Jedenfalls glaubte sie ihm, und später war sie dann dumm genug, ihn zu heiraten, und jetzt haben wir den Salat.«
    Alba boxt mich in den Bauch. »Erzähl es richtig«, verlangt sie.
    »Uff. Wie soll ich etwas erzählen, wenn du so auf mich einschlägst? Menschenskind.«
    Alba ist still. Dann sagt sie: »Warum besuchst du Mama eigentlich nicht in der Zukunft?«
    »Ich weiß nicht, Alba. Wenn ich könnte, würde ich sofort.« Das Blau über dem Horizont verdunkelt sich, es herrscht Ebbe. Ich stehe auf und biete Alba meine Hand an, ziehe sie hoch. Sie klopft sich den Sand aus dem Nachthemd, und auf einmal stolpert sie auf mich zu und sagt: »Hoppla!«, und schon ist sie fort, und ich stehe da am Strand, halte ein feuchtes Baumwollnachthemd in der Hand und betrachte Albas schmale Fußabdrücke im Dämmerlicht.
Donnerstag, 4. Dezember 2008 (Clare ist 37)
     
    Clare: Es ist ein kalter, heller Morgen. Ich schließe die Tür zum Atelier auf und stampfe mir den Schnee von den Stiefeln. Ich öffne die Jalousien, drehe die Heizung an, setze eine Kanne Kaffee auf. Dann stelle ich mich in die Mitte des leeren Ateliers und sehe mich um.
    Über allem liegt der Staub und die Stille von zwei Jahren. Mein Zeichentisch ist kahl, der Holländer sauber und leer. Schöpfformen und Deckelrahmen sind säuberlich gestapelt, die Drahtrollen stehen unberührt am Tisch. Farben und Pigmente, Gläser mit Pinseln, Werkzeuge, Bücher - alles ist so, wie ich es hinterlassen hatte. Die Skizzen, die ich mit Reißzwecken an die Wand geheftet hatte, sind vergilbt und gewellt. Ich nehme sie ab und werfe sie in den Mülleimer.
    Dann setze ich mich an den Zeichentisch und schließe die Augen.
    Der Wind peitscht Äste gegen die Hauswand. Ein Auto fährt spritzend durch den Schneematsch in der Gasse. Die Kaffeemaschine keucht tropfenweise den letzten Kaffee in die Kanne. Fröstelnd öffne ich die Augen und ziehe meinen dicken Pullover enger.
    Als ich heute Morgen aufgewacht bin, habe ich den Drang verspürt, hierher zu kommen. Es war wie ein Aufblitzen der Lust: Ich wollte ein Stelldichein mit meinem alten Liebhaber, der Kunst. Nun aber sitze ich hier und warte darauf, dass etwas ... irgendetwas ... kommt, doch es kommt nichts. Ich öffne eine flache Schublade und hole ein indigogefärbtes Papier heraus. Es ist schwer und leicht angeraut, dunkelblau und fühlt sich kalt an wie Metall. Ich lege es auf den Tisch, stelle mich davor und betrachte es eine Weile. Ich hole ein paar weiche weiße Pastellkreiden und wiege sie in der Handfläche. Dann lege ich sie hin und schenke mir Kaffee ein. Ich blicke aus dem Fenster auf die rückwärtige Hauswand. Wäre Henry da, säße er vielleicht an seinem Schreibtisch, würde vielleicht aus dem Fenster über seinem Schreibtisch zu mir herübersehen. Oder er würde vielleicht mit Alba Scrabble spielen oder Comics lesen oder eine Suppe zum Abendessen kochen. Ich trinke meinen Kaffee in kleinen Schlucken und versuche die Zeit zurückzuholen, versuche den Unterschied zwischen jetzt und damals auszulöschen. Nur meine Erinnerung hält mich noch hier. Zeit, lass mich verschwinden. Dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind.
    Mit einer weißen Pastellkreide in der Hand stehe ich vor dem Papierbogen. Ich beuge mich über das große Blatt, obwohl ich weiß, an der Staffelei wäre es einfacher, und beginne in der Mitte. Ich lege die Proportionen der Figur fest: Hier ist der Scheitelpunkt, der Schritt, die Ferse. Ich skizziere grob den Kopf. Ich zeichne leicht, aus dem Gedächtnis: Augenhöhlen in Höhe der Mittellinie, lange Nase, der geschwungene Mund leicht geöffnet. Die Brauen wölben sich staunend: Ach, du bist das. Spitzes Kinn und weiche Linie des Kiefers, hohe Stirn, die Ohren nur angedeutet. Hier ist der Hals mit den Schultern, aus denen die Arme herauswachsen, die schützend vor der Brust verschränkt sind, hier endet der Brustkrob, der rundliche Bauch, volle Hüften, die Beine leicht geknickt, die Füße zeigen nach unten, als schwebe die Figur in der Luft. Im indigoblauen Nachthimmel aus Papier sehen die Messpunkte aus wie Sterne; die Figur ist eine Sternenkonstellation. Ich setze
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