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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl
Autoren: J Angell
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Einleitung
    Die Leute fragen mir ein Loch in den Bauch. Das hast du gemacht? Du machst Witze, oder? Wie bist du da rangekommen? Wie ist das denn so? Was für Männer kommen zu solchen Agenturen? Was sind das für Frauen, die da arbeiten?
    Vor allem Männer sind absolut fasziniert von dem Thema. Sie wollen ununterbrochen darüber reden, sie stellen immer wieder dieselben Fragen, sie können gar nicht genug davon bekommen. Für sie ist es ein willkommener Einblick in eine geheimnisvolle, halb verbotene Welt, die von Pornos karikiert, von Konservativen bekämpft und von nahezu jedermann mit ganz eigenen Vorstellungen verknüpft wird. Männer werden von einem wohligen Schaudern erfasst, wenn sie daran denken. Frauen fragen sich, wie es wäre, sich (fürstlich) für etwas bezahlen zu lassen, das sie regelmäßig gegen eine andere Währung eintauschen.
    Am Ende schauen die Leute mich dann unweigerlich ein bisschen ängstlich an. Ich könnte eine von ihnen sein, ich bin eine von ihnen. Ich bin ihre Schwester, ihre Nachbarin, ihre Freundin. Ich sehe nicht so aus, wie man sich eine Hure vorstellt. Vielleicht bin ich ihnen deshalb unheimlich.
    Sie möchten, dass Callgirls anders, dass sie erkennbar sind. Dann fühlen sie sich sicherer.
    Doch in Wirklichkeit sieht man es uns normalerweise nicht an. Klar, bei den Mädels, die nachts auf der Straße stehen, bei denen sieht man es. Aber diese Frauen jagen mir ehrlich gesagt selbst eine Heidenangst ein. Als ich einmal nachts mit Peach unterwegs
war, haben wir die Autotüren verriegelt, als wir an ihnen vorbeifuhren – und dabei sind wir doch angeblich Kolleginnen, die im selben Geschäft arbeiten. Die Wahrheit ist, dass wir nichts gemeinsam haben.
    Callgirls (Frauen, die für Begleitagenturen arbeiten, insbesondere für teure oder von Frauen geleitete) unterscheiden sich nicht von anderen Frauen. Sie sind nicht mal unbedingt hübscher. Deshalb sind wir den Leuten so unheimlich – weil wir die Frau von nebenan oder die eigene Ehefrau sein könnten.
    Vielleicht sind wir es.
     
    Eigentlich hasse ich es, wenn man Bücher benutzt, um übers Fernsehen zu schreiben, aber hier muss ich mal eine Ausnahme machen. Zurzeit schaue ich mir regelmäßig The West Wing an, eine intelligente, witzige Serie mit einem Schuss Zeitkritik und viel Verständnis für menschliche Schwächen. Ich bin beeindruckt von den Charakteren, von ihrer Nachdenklichkeit und ihrer Spielfreude.
    Doch in einer frühen Folge brachte eine der Figuren gegenüber einem Callgirl genau die vorherrschende Meinung zum Ausdruck, nämlich dass sie als Callgirl über keinerlei Moral verfüge, dass sie für Geld alles tue, dass sie nicht nur ihren Körper, sondern sich selbst verkaufe. Und dass ihr Beruf weiß Gott nichts sei, auf das sie stolz sein könne.
    Welche andere Berufsgruppe würde sich solche Ansichten gefallen lassen?
    Ob Sie es glauben oder nicht: Callgirls haben moralische Grundsätze. Wie alle anderen Bürger treffen wir Entscheidungen auf Grund unserer eigenen religiösen und/oder moralischen Überzeugungen. Wir haben politische Meinungen, wählen Demokraten oder Republikaner, verfechten unabhängige, sozialistische oder liberale Ansichten. Einige von uns sind nett zu kleinen Tieren. Wir sind weder sexbesessen noch nymphomanisch. Wir haben Beziehungen,
wir entwickeln Vertrauen, und wir bewahren Geheimnisse. Wir sind Töchter, Schwestern und Mütter; wir sind Ehefrauen.
    Die Wahrheit ist, dass die Männer uns brauchen. Und das bereitet ihnen Unbehagen. Also geben sie uns die Schuld daran. Deshalb müssen moslemische Frauen vor den Männern versteckt werden – es ist ihre Schuld, dass Männer durch ihren Anblick in Versuchung geraten. Deshalb sind »Nutten« unmoralisch – weil es ihr Job ist, sich um das Unmoralische im Menschen zu kümmern.
    Ich möchte die Leser bitten, das alles für eine Weile beiseite zu schieben, ihre Vermutungen und ihre Erziehung zu vergessen. Ich möchte sie bitten, sich für einen Weile von ihren Schuldgefühlen, ihren Vorurteilen, ihren fest gefügten Ansichten zu befreien und sich für meine Geschichte zu öffnen.
     
    Im Jahr 1995 hatte ich gerade in Sozialanthropologie promoviert und ging davon aus, dass ich bald eine feste Stelle mit Kündigungsschutz an einer angesehenen höheren Bildungsanstalt antreten würde. Was ich stattdessen bekam, waren mehrere befristete Beschäftigungsverträge als freie Dozentin, weil die meisten Universitäten keine oder nur noch sehr wenige Professuren
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