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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl
Autoren: J Angell
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Anrufe die Stunde?«
    Daraufhin sah er mich das erste Mal an. Ich konnte nicht sagen, ob amüsiert oder mitleidig. »Mindestens zwei Anrufe gleichzeitig .«
    Ich starrte ihn an. »Sie meinen, ich soll zwei verschiedene Leute in der Leitung halten …?«
    »Exakt.« Er klang tödlich gelangweilt. »Wenn der eine’ne ukrainische Bodenturnerin will und der andere’ne tätowierte Lesbe, spielst du eben beide. Zeit ist Geld. Was is’, willste den Job?«
    Ich stellte mir gerade vor, wie die Kunden reagieren würden, wenn ich sie verwechselte. Unbeschreiblich. Wie ich mich kannte, würde mir das garantiert passieren. Und dieser ganze Horror für acht Dollar die Stunde. Ich sollte es lassen.
    Also gab ich auf, zerriss die Liste und geriet wieder für eine Weile in Panik wegen des Geldes. Die Rechnungen flatterten weiter ins Haus, wie Rechnungen das zu tun pflegen – die Zeit bleibt einfach nicht stehen, bloß weil man bankrott ist. Ich konnte die offiziell aussehende Schrift durch den verrosteten Schlitz meines Briefkastens erkennen: Formbriefe, dünne Umschläge. Einige hatten einen roten Streifen an den Kanten. Ich brauchte sie nicht zu öffnen. Ich wusste, was drinstand.
    Passenderweise unterrichtete ich im Wahlfach Soziologie gerade ein Seminar mit dem Titel »Über Tod und Sterben«. Ich sage passenderweise, weil ich den Kurs mit entsprechend düsteren Gedanken begleitete. Ich teilte die Studenten in Diskussionsgruppen
auf, starrte über ihre Köpfe hinweg aus dem Fenster und spürte die kalte Klaue der Furcht in meinem Magen. Irgendwie kamen wir in diesen Wochen auf das Thema Selbstmord zu sprechen.
    Es klang nach einer durchaus bedenkenswerten Option.
    Doch nach und nach kehrten meine Gedanken immer häufiger zur Zeitung zurück. Nachdem ich beschlossen hatte, dass ich unmöglich eine ukrainische Bodenturnerin und eine tätowierte Lesbe in einer Person sein konnte, überschlug ich die Stellenanzeigen für die 0190-Nummern, warf aber trotzdem gelegentlich einen Blick in den »After Dark«-Teil des Phoenix.
    Auf den Seiten, die nach den Stellenanzeigen für den Telefonsex folgten, standen die Inserate der Begleitagenturen.
    Ich warf immer wieder einen Blick darauf, schlug dann schnell die Zeitung zu und ließ meine Katze Scuzzy darauf schlafen, während ich so tat, als ob nichts wäre und stattdessen die Essays meiner Studenten korrigierte. Und doch … und doch.
    Warum nicht?
    War der Gedanke völlig abwegig? Wollte ich wirklich neben meinem normalen Pensum noch 50 Stunden die Woche für einen Hungerlohn in einem Laden der Borders-Buchhandelskette oder in einem Starbucks-Café arbeiten? Das waren schließlich die nächsten Optionen auf meiner Liste. Ich war sogar schon zu einem Vorstellungsgespräch bei Borders gewesen. Dort hatte man mir gesagt, ich könne jederzeit anfangen.
    Etwa zu jener Zeit meldete sich eine Stimme in meinem Kopf. Sie klang verdächtig nach der Stimme meiner Mutter, und die Stimme war überhaupt nicht glücklich über die Richtung, die meine Gedanken nahmen. Interessant war, dass die Stimme mucksmäuschenstill geblieben war, als ich die 0190-Nummern und den Telefonsex in Erwägung gezogen hatte, aber das war vermutlich etwas völlig anderes gewesen. Jetzt würde sie sogar Überstunden einlegen.
    Warte doch mal, sagte ich zu der Stimme. Sei mal einen Moment
still. Lass uns darüber nachdenken. Du kannst in einer Glaszelle sitzen und so tun, als hättest du Sex mit zwei (oder am besten mit noch mehr) Männern gleichzeitig, hältst sie solange du kannst in der Leitung und führst dieselben Gespräche 20, 30 oder 40 Mal die Nacht. Oder du machst echten Sex. Einmal die Nacht. Für erheblich mehr als acht Dollar.
    Und wo ist der Unterschied? Ehrlich?
    Da ist ein Riesenunterschied, erklärte die Stimme. Sie klang entnervt, genau wie die meiner Mutter, wenn ich in einer moralischen Frage anderer Meinung war als sie. Okay, sagte ich, und versuchte, aufgeschlossen zu bleiben: Aber wieso? Wo ziehst du die Grenze? Warum ist das eine halbwegs akzeptabel und das andere überhaupt nicht? Du würdest keinen Sex für fünf Dollar machen. Das verstehe ich. Aber schauen wir mal: Würdest du es für 500 tun? Für 5000? Für fünf Millionen? Ach, das ist was anderes, meinst du? Also ist es doch so, wie Churchill einmal sagte – jeder ist käuflich, es ist nur eine Frage des Preises.
    Die Stimme blieb seltsamerweise stumm. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Es ist schwierig, Churchill eine freche Antwort zu
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