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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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Washington, D.C.

    September 2009

    1
    W ider Erwarten und entgegen meinen eigenen Vorstellungen ist dies eine Liebesgeschichte. Und sie begann ausgerechnet bei Alonzo Wax' Beerdigung.
    Ich hatte Alonzo praktisch mein ganzes Erwachsenenleben lang gekannt, aber in den Monaten nach seinem Tod erfuhr ich einige überraschende Dinge über ihn. Zum Beispiel schickte er seinem morgendlichen Grey-Goose-Wodka einen Teller Schokoladeneis hinterher. Er hatte zwar nie eine Zeile von Alexander Pope gelesen – zu modern –, verschlang aber jeden einzelnen Comicstrip in der Washington Post (sogar »Family Circus«). Er war ein Duckmäuser, Lügner und Dieb und hätte für eine Originalausgabe von Bussy d'Ambois seine sämtlichen Großmütter erschlagen. Und mich mochte er gern.
    Aber in diesen frühen Monaten der Trauer – oder wie man das nennen will, was wir für Alonzo empfanden – war die größte Überraschung die: Er war zum Katholizismus übergetreten. Aber nicht dazu gekommen, es seinen Eltern zu sagen, mäßig frommen Juden aus Rockville, die das Taufzeugnis bei der Durchsicht seiner Unterlagen fanden. Nach einigem familiären Hin und Her machte Alonzos Schwester Shayla sich auf die Suche nach einem Priester, bis ein Freund ihr erklärte, Selbstmord gelte in der Kirche als Todsünde. Also entschied sie sich für einen Gedenkgottesdienst in der Folger Shakespeare Library, die nicht nur aus Marmor war, sondern auch die weltweit größte Sammlung gedruckter Shakespeare-Werke und einen kleinen Berg gut erhaltener und
katalogisierter Elisabethiana beherbergte. Mit anderen Worten, die Mitarbeiter der Folger-Bibliothek taten ziemlich genau dasselbe wie Alonzo: Sie durchwühlten Kisten und Kästen nach jahrhundertealten Dokumenten, die von ihren Verfassern in der Regel für unbrauchbar gehalten worden waren.
    Shayla war froh, auf den Weihrauch verzichten zu können, doch als sie am Eingang zum großen Saal die Trauergäste begrüßte, fiel ihr etwas anderes auf.
    »Henry«, flüsterte sie. »Das hatte ich ganz vergessen. Ich kann Lautenmusik nicht ausstehen.«
    Es gebe Schlimmeres, gab ich zurück. Beim letzten Gottesdienst, den ich in der Bibliothek besucht hatte, wurde eines buddhistischen Gastronomen gedacht, und wir waren eine Stunde lang tibetanischer Musik ausgesetzt: Handzimbeln und Schädeltrommeln und dazu ein kräftig gebauter, in ein Ziegenfell gehüllter Obertonsänger, dessen Tonfolgen sich wie Rülpser anhörten.
    »Außerdem«, fügte ich hinzu, »war das Lautenquartett deine Idee.«
    »Ich hatte eigentlich gedacht, die bringen vielleicht eine Viole mit. Oder eine Oboe.«
    »So ist das nun mal. Wenn ein Sammler von Elisabethiana stirbt, kommen die Lauten zum Einsatz.«
    Aber nicht nur Lauten. Wichtige Leute waren erschienen, Alonzo die letzte Ehre zu erweisen, und hier und da konnte man zwischen Langschwertern und Hellebarden auch die gemeißelten Profile von außergewöhnlich wichtigen Menschen ausmachen: ein Mitarbeiter der Kongressbibliothek, ein Untersekretär vom Smithsonian, ein Botschafter aus Mauritius und sogar ein US -Senator, der ein langjähriger Freund und Wohltäter der Wax-Familie war und sich mit einer Gewandtheit durch die Menge grüßte, als sei dies ein Lobbyistentreffen. Alonzo, dachte ich, wäre entsetzt und geschmeichelt zugleich gewesen.
    »Habe ich schon erwähnt, dass du seinen Nachlass verwalten sollst?«, sagte Shayla.
    Sie wandte sich gerade noch rechtzeitig um, so dass sie meinen Gesichtsausdruck sah.
    »Wenn du nicht willst«, sagte sie, »verstehe ich das.«
    »Nein. Ich fühle mich geehrt.«
    »Es gibt ein Honorar dafür, soweit ich weiß. Nicht viel  …«
    »Spielt das eine Rolle, wenn mir nicht klar ist, worauf ich mich da einlasse?«
    »Nein«, sagte sie. »Heute brauchst du nur an deine Rede zu denken.«
    Sie sah mich scharf an. Der Streifen des nachgewachsenen Haars auf ihrem Schädel leuchtete wie eine Kriegsbemalung.
    »Du hast doch etwas vorbereitet, Henry? Alonzo konnte Gestammel nicht ausstehen, das weißt du.«
    Aus genau diesem Grund hatte ich mir ein paar Stichpunkte auf Karteikarten notiert, aber als ich sie auf dem Podium vor mir ausbreitete, erfasste mich ein seltsamer Widerwille. So dass ich im letzten Augenblick beschloss zu improvisieren. Ich ließ den Blick über die gut dreihundert Trauergäste schweifen, die sich unter einem wuchtigen, mit Bandelwerk verzierten Gewölbe auf knapp dreihundert Quadratmeter Terracottafliesen verteilten – und machte mich
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