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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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selbstverständlichen Möglichkeiten, uns eine vielseitigere Auffassung unserer Wirklichkeit zu verschaffen? Warum?
    Vieles geht ihm durch den Kopf, während er dort steht, doch nichts, was er festhalten will. Er will eigentlich nichts anderes als warten. Warten, um zu erfahren.
    Doch es strömt ihm kein Schweigen entgegen. Keine Seelenqual quillt aus dem Grab empor. Keine Gestalt schwebt vor seinen Augen. Nichts.
    Nicht das geringste Zeichen.
    Dann denkt er endlich den Gedanken. Er kommt zu ihm, ohne dass er danach gesucht hat, und er hält ihn so lange fest, bis er weiß, es ist der richtige.
    Ja, ich verzeihe dir, denkt er.
    Er sagt es auch, mit lauter, ein wenig brüchiger Stimme direkt über die Gräber hinweg.
    »Ich verzeihe dir, Tomas.«
    Nichts geschieht. Vielleicht war das auch nicht zu erwarten, er weiß es nicht.
    Er legt sich hin. Er hat beschlossen, es zu tun, und sofort spürt er, wie die Müdigkeit über ihn hereinbricht. Hier schlafen?, denkt er. Vielleicht bekomme ich im Traum ein Zeichen?
    Es ist nur ein leichter Stups. So leicht, dass er ihn kaum bemerkt. An der Wange trifft er ihn, er liegt auf der Seite, mit angezogenen Knien, die Hände unter dem Kopf, fast in Fötusstellung, und er ist noch nicht so richtig in den Schlaf gefallen.
    Er kommt nicht dazu, darüber nachzudenken, was es gewesen sein mag, bevor es wieder passiert. Etwas unbegreiflich Leichtes, Weiches, das zurückkehrt und die Wärme seines Halses sucht. Oder wie soll man es deuten? Direkt unter seinem Ohr bleibt es liegen, er sieht es nicht, kann natürlich in dieser Dunkelheit nichts sehen, fühlt nur die Nähe wie ein ...
    ...wie einen unerhört leichten Druck zitternder Wärme.
    Ein Vogel.
    Lange bleibt er vollkommen still liegen, wagt es nicht, sich zu bewegen. Worte und Bilder, Erinnerungen und ein ganzer Schwall Unterbewusstes flimmern durch sein Gehirn, doch nichts betrifft ihn wirklich. Alles hat so eine sonderbare Blässe, eine Blässe, die es auf Abstand hält ... im Vergleich zu diesem kleinen Vogel erweist sich die Welt insgesamt so abgelegen.
    Weit entfernt und ihn nicht betreffend.
    Er zieht seinen rechten Arm heraus. Wölbt vorsichtig seine Hand über dem kleinen Vogelkörper. Er spürt, wie dessen Kopf sich dreht, der scharfe Schnabel zupft ein paar Mal an seiner Haut. Die Füße zucken einen Moment lang unruhig, doch dann ist da nur noch dieser unfassbar leichte Ball weicher Wärme.
    Ein Sperling. Ja, es muss wohl ein Sperling sein, denkt er, und da es ihm offenbar gefällt, mit dem Tier zu sprechen, beginnt er leise zu flüstern. Sehr leise und sehr vorsichtig, um es nicht zu erschrecken.
    »Hab keine Angst«, sagt er. »Es waltet eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings. Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles. Da kein Mensch weiß, was er verlässt, was kommt darauf an, frühzeitig zu verlassen? Mag’s sein.«
     
     
    Die ganze Nacht über bleibt er so liegen, und er fällt nicht ein einziges Mal in den Schlaf. Er liegt in der gleichen Haltung ruhig da, ohne irgendeine Form von Müdigkeit oder Anstrengung im Körper zu spüren.
    Er liegt dort in der Dunkelheit auf Tomas Borgmanns Grab, mit dem kleinen Spatzen an seinem Hals. Als das erste graue Tageslicht über dem Friedhof aufsteigt und die Dunkelheit verdrängen will, macht sich der Vogel auf und davon. Nur ein kleiner Hüpfer, und schon ist er fort. Lässt nichts außer einem warmen Fleck zurück, einem schnell verwelkenden Gefühl der Nähe, das dennoch auf irgendeine sonderbare Weise mit jeder Sekunde, die verstreicht, stärker zu werden scheint.
    Für einen Moment bleibt er noch liegen und spürt die Nähe des Vogels. Dann steht er auf, bürstet sich die Erde ab und streckt ein paar Mal die Arme über den Kopf. Eine gewisse Steife ist trotz allem im Körper zu spüren. Ein frischer Wind ist aufgekommen, das Rauschen in den Baumkronen ist lauter geworden. Er tritt auf den Kiesweg. Schiebt die Hände in die Jackentaschen und geht.
     

42
     
    E s ist ein Abend Anfang Mai.
    Wieder ein warmer Abend. Tagsüber hat Freddy Tische und Stühle auf dem Bürgersteig stehen gehabt, doch in der Abenddämmerung hat er sie hereingeholt. Vor dem Fünfzehnten ist es nicht angeraten, abends draußen zu sitzen, und ein guter Wirt denkt an die Gesundheit seiner Gäste.
    Und Gäste hat er
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