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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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Schluss nur noch der Kern selbst zurückbleibt.
    Der Mensch. Mann oder Frau. Jung oder alt. Tief drinnen in diesem Unbekannten befindet sich die unhörbare Stimme eines anderen Menschen. Freund oder Feind. Irgendjemand dort draußen, dort in der Ferne, richtet sich an diesem Abend mit einem stummen Gebet an ihn, eingehüllt in dieses Schweigen wie ein Wort in eine Wolke.
    Ein Schweigen, das er unter tausend Schweigen wiedererkennen wird.
    Ungefähr so. So fängt es an.
     
     
    Du bist nicht ganz gescheit, Maertens, denkt er hinterher und schaltet das Licht ein. Wieder einmal. Eines dieser Tiefs, sie kommen näher und näher, die verspätete Vorhut des Alters und Verfalls. Sein Blick fällt auf den Kalender von Clauson & Clauson und findet das heutige Datum: Donnerstag, der 26. Zwei Kästchen weiter, über Samstag, den 28., hat er mit rotem Stift B: 48 geschrieben.
    Birthe achtundvierzig. Da muss er wohl ein Geschenk kaufen. Wahrscheinlich in der Mittagspause am nächsten Tag. Wann sonst? Eine Flasche Parfüm oder einen guten Wein. Was sonst?
    Keinen Wein. Unter keinen Umständen Wein, beschließt er. Beim letzten Mal wollte sie seinen Château Margaux für spätere Gelegenheiten aufbewahren, statt ihn in seiner Gesellschaft zu trinken. So eine Dummheit will er nicht noch einmal begehen. Mit Parfüm ist sie zweifellos besser bedient.
    Hinaus in die Küche und eine Zigarette anzünden. Der einzige Ort im Haus, wo er es sich immer noch gestattet zu rauchen. Er setzt sich an den Tisch. Immer noch ein leichter Schmerz in der Leiste, der Rücken jetzt besser. Die Wachstischdecke ist hässlich, aber nicht hässlicher als gestern. Dann sitzt er da und versucht die Dinge in den Griff zu bekommen, die Dunkelheit des Januars und die Gedanken, die nur darauf warten, hervorbrechen zu dürfen.
    Oder aber sie zurückzuhalten, das ist nicht so ganz klar. Etwas ist passiert, er weiß nicht was, aber es gibt eine Tatsache, die schneller als alles andere Treibgut an Land geschwemmt wird und sich begreiflich macht, nämlich dass es genau in diesem Augenblick einen Ort geben muss – weit entfernt oder ganz nah, vielleicht eine Küche, genau wie seine eigene –, einen Ort, an dem jemand anders auch im Halbdunkel sitzt und mit zitternder Hand eine Zigarette zum Mund führt. Jemand anders.
    Wie er selbst, Maertens. Einer, der keine Stimme hat, um zu sprechen, Freund oder Feind, der sich ihm aber genähert haben muss. In Maertens’ eigene Welt eingedrungen sein muss.
    Jemand, dessen Gesicht nicht hervortreten will, dessen Person, Persönlichkeit und Bedingungen ihm vielleicht nur zu bekannt sind, dessen Bild deutlich werden könnte, wenn es Maertens nur gelänge, nicht krampfhaft zu versuchen, es herbeizurufen. Ja, er redet sich ein, dass es sein könnte, wenn es einem nur gelingt, nicht an dieses Schweigen zu denken, das man unter tausend Schweigen erkennen würde, und stattdessen ruhig und still dasäße, rauchte und aus dem Fenster schaute in den Januardunst, der die Straßen und Straßenlaternen und Bäume in einen weichen, fremden und gleichzeitig vertrauten Nebel einhüllt, dass es dann sein könnte, dass plötzlich, simsalabim, der Mensch leibhaftig vor dem inneren Auge erschiene.
    Freund oder Feind.
    So ist es. Alles zerrinnt. Die Zigarette brennt unerbittlich herunter, ohne irgendeinen Nutzen gehabt zu haben. Er drückt sie wütend aus, spült eventuelle Glutreste unter dem Wasserhahn ab, wäscht den Aschenbecher aus und stellt ihn kopfüber zum Abtropfen. Das sieht hässlich aus, aber nicht hässlicher als gestern. Du bist ein verdammter Teufel, Maertens.
    Ende Januar.
    Kalte Nebelschwaden.
    Er kehrt wieder in den Kellerraum zurück. Läuft eine Weile unschlüssig und unruhig hin und her. Klappt das Schreibheft zu, löscht das Licht, geht hoch und legt sich schlafen.
    Ahnt kaum etwas. So ist es meistens.
     

2
     
    D er nächste Tag ist ganz normal.
    Normal und aufdringlich wie die Steife in den Schultern und das Warten auf das, was nie kommt. Er wacht auf, ohne geschlafen, ohne geträumt zu haben. Im Aquarium treibt das Regenbogenmännchen mit dem Bauch nach oben im Wasser. Zumindest ist anzunehmen, dass es das Männchen ist. Die Kenntnisse, die er über seine Nächsten und Liebsten hat, sind ziemlich dürftig. Draußen auf der Straße hupt Bernard bereits. An Frühstück ist nicht zu denken, es ist halt einer dieser Morgen.
    Auf dem Treppenabsatz schlägt ihm ein kalter Wind entgegen. Er schlägt den Mantelkragen hoch und
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