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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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Bernard hat bereits die Spielfiguren aufgestellt. Sie bestellen Dunkelbier und beginnen mit einer Partie. Istvan und der Chinese wechseln den Tisch, lassen sich bei ihnen nieder und schauen zu. Istvan hat eine neue Frau dabei, sie heißt Ingrid und sieht nordisch aus. Sehr nordisch mit langem Hals und hellem, fast weißem Haar. Bernard redet ununterbrochen, jetzt am Abend mit noch weniger Widerstand, über den neuen Akkord in der Fahrradfabrik, in der er arbeitet, über bevorstehende Spiele in den Fußballligen, mit dem Chinesen über Möglichkeiten, fürs Wochenende ein Haus am Meer zu mieten, mit Grete, Freddys besserer Hälfte, über das aktuelle Tagesmenü.
    Denn sobald die Partie zu Ende ist – ein kühnes, russisches Ersatzremis –, ist es Zeit zu essen. Gretes solide Kochkünste bieten an diesem Freitag ein prachtvolles Kalbsragout mit Pilawreis und Pilzen. Sie teilen sich dazu eine Flasche richtigen Bourgogne zu viert. Istvan trinkt nie etwas anderes als Bier. Sein Magen kommt sonst durcheinander, wie er behauptet. Er verträgt kaum Wasser.
    Nach dem Essen kommt Freddy selbst und setzt sich eine Weile zu ihnen. Er bringt die niederschmetternde Nachricht, dass er vermutlich »The Duchess of Malfi« erschießen muss.
    The Duchess, das ist Freddys und Gretes Hofhund. Eine riesige Neufundländerhündin, die ihren Platz und ihr gesamtes anspruchsloses Revier zwischen der Heizung und der Garderobe hat und die ein äußerst würdevolles Tier ist. Sie hat nie viel Aufmerksamkeit verlangt, höchstens mal eine buschige Augenbraue gehoben, wenn nicht mehr ganz so standfeste Gäste Bier auf ihr Fell gekippt hatten oder ihr zu hart auf den Schwanz traten.
    Und sie lebt bei Freddy, solange irgendjemand zurückdenken kann. Aber in letzter Zeit hat sie angefangen zu riechen, und jetzt war der Tierarzt da und hat das Urteil über sie gesprochen.
    »Sie muss der älteste Hund der Welt sein«, sagt Istvan.
    »Ach, sie hat so ein liebes Wesen«, lispelt der Chinese.
    »Das Schlimmste«, erklärt Freddy, »ist, dass ich gezwungen bin, sie sozusagen vom Fleck weg zu erschießen. Wenn wir versuchen, sie woandershin zu bringen, dann würde sie sofort den Braten riechen.«
    Es wird einhellig genickt. Es ist betrüblich. Es ist unverantwortlich. Einige flüchtige Augenblicke lang betrachtet man die zum Tode Verurteilte, und Maertens weiß, dass jeder Einzelne in diesen Sekunden denkt, dass sie alle im gleichen Boot wie die Hündin sitzen. Alle zusammen. Es ist ein großes, nicht in Worte zu fassendes Gefühl. Dann spricht der Chinese einen Toast aus, das macht er immer, sobald sich die Gelegenheit bietet, und Freddy widmet sich wieder seiner Arbeit.
     
     
    Durch noch zwei weitere Partien arbeiten sie sich: noch ein Remis und eine sich lange hinziehende Spanische Partie, bei der Maertens zum Schluss einen Bauern nach mehr als fast achtzig Zügen in einen Sieg verwandelt. Bernard notiert das Ergebnis in seinem gelben Notizheft und teilt den Jahrespunktstand mit: 8,5 : 6,5 zu Maertens’ Gunsten.
    Genau in dem Moment, als Bernard das Heft wieder in seine Innentasche schiebt, wird Maertens an diesem Abend von dem Gefühl der Sinnlosigkeit überfallen. Ganz genau in dieser zähen Sekunde. Wie ein Schlag auf den Kopf trifft es ihn. Hart und schonungslos. Der anonyme und allmächtige Fürst ist das Ganze jetzt leid, diese windgetriebenen Marionetten da drinnen in Freddys Bar sind an diesem Freitagabend ihres Lebens überdrüssig. Entschlossen fällt sein Riesenhammer aufs Dach und geradewegs auf Maertens’ Kopf, um allem endlich ein Ende zu bereiten.
    Allem, was ihn schon seit längerem in keiner Weise mehr amüsiert.
    Maertens beobachtet Bernards Hand, als diese die Innentasche verlässt. Sie taucht hinter dem Jackenrevers unter, ändert die Richtung, um die Krawatte zu richten, seine würstchenartigen Finger sehen zögernd und resigniert aus, immer langsamer bewegen sie sich, das Bild von ihnen flimmert und zuckt wie die letzten Kästchen eines Filmstreifens, der gerissen ist. Oder gerade reißt, die letzten Zehntelsekunden, bevor alles still wird. Dunkel und still.
    Das ist nichts Neues. Natürlich hat er das schon früher erlebt, all das, es ist an diesem Abend nur außergewöhnlich deutlich. Er zögert vor diesem Gedanken, zwingt sich aber, ihn aufzunehmen. Stößt auf die gleiche Stimme wie immer. Die gleiche, beharrlich auffordernde Stimme, die ihre dunklen Fragen rezitiert: über die Vergangenheit, über das nie Geklärte. Wie
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