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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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hat«, sagt er, »dann muss man sich ein neues Frauenideal suchen.«
    Fräulein Kemp sollte also dem alten widersprechen ...?
    Nein, Maertens hat keinen Blick dafür. Auch an diesem Morgen nicht. Aber schließlich ist das auch nicht sein Problem.
     
     
    Die Sonne spiegelt sich im Denkmal.
    Mitten im Zentrum steht es. Auf der nördlichen Seite des S-Marktes, eingerahmt von hanseatischen Prachtgiebeln, Jugendstilfassaden, wuchernden Linden – ein grober, phallusförmiger Riesenzylinder aus Glas, Stahl und farbigem Beton. Vielleicht wollte der Architekt auf eine andere Heimstatt in den höheren Sphären verweisen oder etwas in der Art. Unter den einfacheren Leuten der Stadt wurde er schlicht und einfach Der Steife genannt. Oder auch Der Große Steife. Maertens überlegt, kann sich aber nicht daran erinnern, jemals einen anderen Namen für das Gebäude gehört zu haben, aber irgendwie wird es sicher heißen. Einen schöneren Namen muss es ja wohl haben. Für die Staatsbibliothek sind jedenfalls die beiden untersten Stockwerke vorgesehen, so dass die Gefahr, jemand, der einfach nur Bücher ausleihen oder lesen möchte, könnte sich in die höheren Gefilden verirren, ausgeschlossen ist. Absolut ausgeschlossen.
    Fräulein Kemp ist die Chefbibliothekarin. Er stößt mit ihr bereits in der Garderobe zusammen. »Guten Morgen«, sagt sie nur. »Kalt?«
    Sie verbraucht so viel von dem Sauerstoff in dem kleinen Raum, dass ihm für einen Moment schwindlig wird. Aber nur für einen Moment. Auf seine eigenen Atemzüge braucht er sich wahrscheinlich nichts einzubilden, und er beschließt, die Grüße ihres weißen Ritters nicht zu übermitteln. Er will ihn nicht in ein schlechtes Licht setzen. Das schafft er mit Sicherheit selbst, Maertens kennt ihn so gut wie seine eigene Hosentasche.
    Er hängt Mantel und Schal auf und schlüpft auf die Toilette. Spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht und spült den Mund aus, es gibt solche und solche Morgen.
    Dann geht er in den Aufenthaltsraum. Begrüßt Roaldsen und Leon Markovic. Er gießt sich aus der Kaffeemaschine Kaffee in einen Becher ein, auf dem »Coffee – the heartblood of tired men« steht. Chandler.
    »Du siehst alt aus«, sagt Roaldsen.
    Er nickt und verbrennt sich am Kaffee. Fräulein Kemp kommt herein. Sie zeigt eine feine Runzel über der Brille, und ihr erdfarbenes Tweedkostüm sieht aus wie frisch gebügelt. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Zweifellos ist es an der Zeit.
    An der Zeit, die Arbeitsaufgaben des Tages anzupacken. Ein neues Frauenideal?
     
     
    Als die Kunden hereingelassen werden, steht die Witwe Loewe als Erste in der Schlange.
    Maertens hilft ihr behutsam über die Schwelle. Führt sie vorsichtig die acht Treppenstufen hinauf – seit den hektischen Tagen vor Weihnachten gibt es immer wieder Probleme mit dem Fahrstuhl – und hilft ihr, die Ausleihzeit für den zweiten Band von »Krieg und Frieden« zu verlängern. Anschließend unterhalten sie sich eine Weile, ob das Schicksal es wohl zulassen wird, dass sie noch das ganze Werk zu Ende liest, bevor ihre Tage ein Ende finden werden. Obwohl man das ja nie wissen kann.
    Anschließend bringt er sie zur Haltestelle auf der anderen Seite des Markts und passt auf, dass sie in die richtige Straßenbahn steigt. Die Sechsundzwanzig, die Linien sind nach Neujahr verändert worden. Oder vielmehr die Ziffern, die Schienen liegen da, wo sie immer gelegen haben.
    Ein Freitag im Januar, denkt er, als er wieder hinter dem Ausleihtresen sitzt. Ein Tag wie jeder andere im Leben.
    Es ist kein neuer Gedanke.
     

3
     
    F reddys Bar liegt in Pampas. So hieß die Gegend im Volksmund schon immer, dieses lang gestreckte, nur teilweise bebaute Gebiet zwischen dem träge dahinfließenden Fluss und dem Südlichen Stadtwald. In welchem Jahr Freddy seine Tore geöffnet hat, das weiß Maertens nicht, aber es muss irgendwann während seiner eigenen langen Abwesenheit gewesen sein. Als er schließlich zurückkam, stand sie da, als hätte sie sich schon immer dort befunden: die kleine Nachbarschaftskneipe an der Ecke, der Zufluchtsort und Schutz aller Einsamen in Pampas. All diese Verirrten und Verlassenen, die einigen der zahllosen Stunden all ihrer Wochen, Monate und Jahre zu entfliehen suchen. Die mit ihrem Tod, das ist ihre letzte Hoffnung, einzig und allein den Kreis ihres eigenen Lebens schließen und sonst nichts.
    Die auch nur aus lauter Barmherzigkeit existieren, das ist ihre kleinlaute Entschuldigung.
    Er kommt zu spät,
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