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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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bleibt eine Sekunde in simuliertem Zögern stehen. Wenn der Tod käme oder eine andere unbekannte Größe und böte ihm in so einem Moment die Hand, würde er dann nicht ...?
    Doch nichts geschieht. Nun gut, also geht er hinaus in die Welt. Aus dem Autoradio strömt eine diffuse Klaviersonate. Bernard sieht unrasiert und grau verfroren aus, dennoch hat er sein Morgengrinsen aufgesetzt, bevor Maertens es noch schafft, die Tür wieder zu schließen.
    »Freitag!«, ruft er mit infamer Munterkeit aus. »Trost und Belohnung aller Schiffbrüchigen!«
    Dann fängt er an zu husten. Seine Stimmbänder haben sich noch nicht an einen neuen, fremden Tag gewöhnt. Maertens wird ihm wegen dieses Lächelns irgendwann noch einmal eins in die Fresse hauen. Dieses Morgengrinsen. Das ist ihm schon seit langem klar, verdammt klar. Eines Tages werden alle Gedanken zwangsläufig in Handlungen übergehen und eine höhere Stufe erklimmen. Irgendwann einmal, aber nicht an diesem Morgen.
    Bernard redet sich warm.
    »Du brauchst dir nur die ersten fünfzehn Minuten anzugucken, oder vielleicht die ersten siebzehn, wenn wir ganz genau sein wollen, mit Rügers beiden Toren und Mussets hohem Kopfball an die Latte, das lässt mich schlicht und einfach an ein Sonett denken. Ein Sonett!«
    Maertens sagt nichts.
    »Genauso wie Andersson gegen Portisch sechsundsiebzig mich an verlorene Eier erinnert hat. Es ist irgendwie dasselbe. Verstehst du? Verstehst du?«
    »In Brest?«, fragt Maertens. Gähnt. Es knackt in den Gelenken.
    »In Brest. Wo sonst?«
    So geht es weiter. Maertens reagiert, hört aber nicht wirklich zu. Er registriert nichts, findet keinen Anlass dafür. Bernard redet im Kreis. In dem Bereich, in dem er etwas zu sagen hat, wiederholt sich alles immer wieder, Maertens hat das im Laufe der Jahre gelernt. Analogien verändern sich, werden ausgetauscht und ausgeschmückt – aber das Muster, das möglicherweise gewollte, ist immer zu greifen. Es kommt stets in seiner bleichen Dürftigkeit an die Oberfläche.
    Zumindest stellt er es sich so vor, und wenn es denn anders sein sollte, könnte er doch nichts daran ändern. Bernard spinnt seinen Wortkokon weiter, beharrlich und unermüdlich, in gewisser Weise eisenhart, eine Schicht wird über die andere gelegt, tagein, tagaus. Über Essen und Fußball spricht er. Über Schach. Über alte Radchampions. Über Frauen.
    »Weißt du, Maertens, mit den Frauen, das ist doch etwas Besonderes!«
    Etwas Besonderes? Maertens zündet sich die erste Zigarette des Tages an und denkt an Straßenbahnen. Wie es wäre, stattdessen mit der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren. Das ist ein geliebter, angenehmer Zwangsgedanke, der sich jeden Morgen auf den dreihundert Metern zwischen den Bahngleisen und dem Fluss in ihm festsetzt. Kein großer Gedanke, aber praktisch wie ein Topflappen oder eine Lebenslüge, und nach einer Weile lässt er ihn wieder fallen, und im gleichen Moment, im gleichen alten, üblichen Moment, ist der neue Tag über ihn hereingebrochen. Dieses unklare, traumhafte Gefühl, das diesen speziellen Tag aus der langen Reihe vergangener und zukünftiger Tage heraussiebt. Die Diktatur des Jetzt, das hat er irgendwo gelesen, ihre Anwesenheit ist stark und überraschend, er bietet ein paar Sekunden lang Widerstand, resigniert dann aber und holt tief Luft. Wirft einen Blick zu Bernard hinüber. Könnte es sein, dass dieses genau die Gebrauchsanweisung zurückhält, die Maertens braucht? Dieser Bernard. Ja, ist es denn nicht so? So ist es um die Welt bestellt! Auf diese Art und Weise verhält es sich mit Dingen und Sachen! Es ist etwas Besonderes mit den Frauen.
    Und er braucht nicht einmal zuzuhören. Nie eine eigene Meinung auszudrücken, vielleicht ist das ein Privileg.
    »Du solltest die Scheiben kratzen«, sagt er schließlich an diesem Morgen, weil er nicht hinaussehen kann.
    »Quatsch«, erwidert Bernard. »Das wird klar, wenn die Heizung in Gang kommt. Außerdem findet sie den Weg von allein.«
    Sie biegen ab auf den Alexanderviadukt. Im Laufe der vielen Jahre, die sie zusammen fahren, ist es noch nie vorgekommen, dass die Heizung in Gange gekommen wäre. Und das Pronomen sie bezieht sich auf das Fahrzeug selbst, die Fortbewegungsmaschine, wenn man so will. Sie hat eine dunkle Geschichte, aber sicher verhält es sich so, wie Bernard sagt: Sicher ist sie früher einmal eine Schönheit gewesen mit durchgehend weiblichen Vorzeichen. Eine junge, himmelblaue Vidette. Inzwischen ist sie in die Jahre
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