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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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und einen Kerl, der irgendwo hinter seinem Rücken hockt und mit einer Beharrlichkeit Schleim hochhustet, als bekäme er dafür bezahlt.
    Was hat er sich eigentlich erhofft?
    »Kannst du es mir sagen?«, fragt er schließlich. »Was da auf dem Friedhof passiert ist?«
    Sie dreht ihr Glas, sagt aber nichts.
    »Was hast du dort gesehen?«
    »Eine Gestalt.« Sie dreht weiter.
    »Eine Gestalt?«
    »Ja. Ich habe eine Gestalt gesehen, die übers Gras schwebte.«
    Wieder verstummt sie. Maertens wartet erneut, zündet sich eine Zigarette an, bittet sie, doch fortzufahren. Sie schweigt noch eine Weile, dann seufzt sie und zuckt mit den Schultern.
    »Wie du willst, aber ich bin es nicht gewohnt, so etwas weiterzugeben, das musst du dabei im Hinterkopf haben.«
    Sie windet sich ein wenig, bevor sie fortfährt.
    »Es war eine Gestalt, ein junger Mann, aber abgehärmt ... sehr abgehärmt. Er lag, oder besser, er kniete, und er wrang die Hände. Wrang sie auf eine so überdeutliche Art und Weise wie bei einer Scharade oder Allegorie. Mir fiel ein, dass ich ähnliche Figuren auf Kirchenmalereien gesehen habe, aus dem Mittelalter oder vielleicht auch später ... Altarbilder mit reuigen Sündern ... ja, etwas in der Art. Es war natürlich ein Zeichen, aber es ist nicht meine Sache, es zu deuten. Ich habe gewusst, dass du zurückkommen würdest, schließlich geht es ja um dich, nicht um mich. Es geht nie um mich.«
    Sie hebt den Blick. Schaut ihn an, fast mitleidig.
    »Ein junger Mann?«, fragt Maertens. »Du hast gesagt, es war ein junger Mann?«
    Sie nickt. »Höchstens fünfundzwanzig.«
    Maertens überlegt.
    »Was soll ich tun?«
    »Das weißt du.«
    »Nein, ich fürchte, ich verstehe nicht ...«
    Er verstummt. Was will er eigentlich von ihr? Er fühlt, dass die Worte bereits seit langem gestorben sind, bevor sie ihm über die Lippen kommen. Begreift plötzlich, dass es keine Abkürzung gibt, aber kann sie ihm wirklich nicht ein kleines Stück auf dem Weg helfen? Nur ein kurzes Stück? Ihm eine Art Flutwelle geben. Er streckt ihr seine Hände hin, ohne darüber nachzudenken, was er tut. Plötzlich liegen sie vor ihm auf dem Tisch, seine Hände. Das sieht fast ein wenig schockierend aus. Flehend und bebend, doch immer noch mit einem festen Griff um diese zermürbende Situation, so ein Gefühl hat er. Auf irgendeine merkwürdige Art und Weise.
    Und er weiß, dass es vollkommen richtig ist. Jetzt weiß er, dass es genau so hat geschehen müssen. Er sieht, dass sie zögert, dass es ihr immer noch Mühe macht.
    »Mit mir verhält es sich so«, erklärt er, »dass ich höchstens noch zwei Jahre zu leben habe, und ich bin bereit, diese Zeit zu warten. Ich denke, ich werde hier am Tisch sitzen und warten, dass du meine Hände nimmst, solange ich noch lebe.«
    Du bist nicht ganz gescheit, Maertens, denkt er. Absolut nicht gescheit.
    Jetzt betrachtet sie sie, seine Hände, hält aber weiterhin ihre unter dem Tisch versteckt.
    »Das Café wird nachts schließen.«
    »Nicht dieses, das weißt du so gut wie ich.«
    Da gibt sie auf. Wölbt zunächst ihre Hände vor dem Mund und haucht ein paar Mal in sie hinein. Als wollte sie sie wärmen oder ihnen eine Art Atem einhauchen. Dann umfasst sie seine. Umschließt sie, so gut sie kann, das ist weichherzig wie das Blatt eines Endiviensalats, und sie sitzen ganz still da. Nach einer Weile spürt Maertens, wie ihre Wärme in ihn strömt, und bald ist die Welt und alles, was sie umgibt, unendlich weit entfernt. Sinnlos und vollkommen unwichtig. Eine Fliege läuft ihr Handgelenk hinauf und verschwindet im Pulloverärmel.
    Endlich hat sie die Verantwortung übernommen, es scheint ihr nicht unbedingt zu widerstreben. Er schließt die Augen, und alle Eindrücke der Umgebung verebben. Es vergeht einige Zeit. Der hustende Kerl holt noch mehr Schleim aus sich heraus, aber die Zeit vergeht.
     
     
    »Sieh mich an!«
    Er öffnet die Augen.
    »Du weißt, was du zu tun hast?«
    »...«
    »Du musst zurückgehen.«
    »Wohin?«
    »Das weißt du.«
    »Warum?«
    Sie schüttelt geduldig den Kopf. Er sieht, dass sie sekundenlang nach den richtigen Worten sucht.
    »Wer bist du, dass du die Qual nicht linderst, obwohl du es kannst?«
    Der Strahlenglanz erscheint ihm jetzt fast wie damals am Grab, doch Maertens schützt seine Augen nicht. Er lässt sich blenden. Muss sich gezwungenermaßen davon leiten lassen, muss jeden Schutz fahren lassen. Es gibt keine Möglichkeit zu widerstehen, warum sollte er es dann
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