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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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überhaupt versuchen? Sie sagen nichts. Sitzen da und halten einander bei den Händen, und langsam beginnt er eine große Erleichterung zu spüren. Eine Befreiung, die sich zögernd und umständlich nähert, wie eine Trauerbotschaft des Nachts, die sich aber bald in einer Kaskade nach der anderen ergießt, ein anwachsendes Gefühl im Körper, wie bei einer plötzlich auftretenden Übelkeit. Er fühlt sich wieder leicht wie eine Feder – und gleichzeitig schwer wie ein Stein. Er sinkt und zerfließt in Schwerelosigkeit. Was geht hier vor?, fragt er sich, genau wie beim letzten Mal, aber es ist keine Frage, die nach einer Antwort ruft. Über so etwas ist er jetzt erhaben, über alles, er ist auf der anderen Seite aller Grenzen, frei. Frei wie ein hoher Raum, frei wie Wellen in einem stürmischen Meer, frei wie das Feuer. Der hustende Kerl scharrt mit dem Stuhl und verlässt seinen Platz, er hat offensichtlich genug. Nadja schließt die Augen, fordert ihn auf, es ihr gleichzutun, und dann lockert sie vorsichtig den Griff um seine Hände.
    Maertens macht die Augen zu und bleibt vollkommen reglos an dem schmutzigen Tisch sitzen. Wieder verstreicht einige Zeit, viel oder wenig, eine unbestimmte Menge an Wasser löst sich in Dunst auf, ein Gast oder einige Gäste kommen herein und nehmen an anderen Tischen Platz. Gewisse Dinge geschehen statt anderer Dinge, doch die meisten der Dinge bleiben an ihrem alten Platz. Draußen auf der Straße singt jemand ein paar Töne aus einer Arie, die ihm vertraut zu sein scheint, die er jedoch nicht identifizieren kann.
    Haben wir uns geliebt?, fragt er sich. Ja, so muss es gewesen sein, beschließt er sofort, sie haben sich soeben geliebt, und jetzt lassen sie sich mit der Brandung an Land treiben. Es ist so verdammt merkwürdig und gleichzeitig überhaupt nicht merkwürdig. Er hat diese unbekannte Frau geliebt, indem er ihre Hände auf einem Tisch in einem beschlagenen Café gehalten hat. Nein, genauer gesagt hat er alle Frauen auf der ganzen Welt geliebt ... du bist nicht ganz gescheit, Maertens. Wieder einmal nicht ganz gescheit.
    Er sieht sie an.
    Sie atmet aus.
     
     
    »Maertens, so hast du dich doch genannt, oder?«
    »Ja.«
    »Aber du hast noch einen anderen Namen, oder? Deinen richtigen Namen.«
    »Leon.«
    »Leon, ich kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür, dass ich diese Kraft habe. Ich habe sie verflucht und verleugnet, aber es bringt nichts. Ich muss damit zurechtkommen, ich habe sie bekommen, und ich muss sie verwalten ... Wir haben alle unsere besonderen Gaben, vielleicht ist es ein Verbrechen, sie verstecken zu wollen.«
    Er denkt nach.
    »Aber die Gestalt?«, fragt er wieder. »Du hast tatsächlich eine Gestalt gesehen? Ich meine ...«
    Er hat keine Ahnung, was er eigentlich meint.
    »Es war ein Zeichen, das habe ich dir doch schon erklärt.«
    Sie streckt die Hand aus. Zeichnet ein Dreieck auf die Fensterscheibe. »Ein Zeichen steht außerhalb seiner eigenen Existenz«, sagt sie. »Manchmal glaube ich, das Zeichen ist das Einzige, was es gibt ... ein ganz einfaches Ding kann doch nichts bedeuten. Vielleicht ist es tragisch, ich weiß es nicht. Aber wenn wir einfach bereit sind, uns darauf einzulassen, es nicht einzuordnen, dann wird alles viel deutlicher. Schließlich ist es unser innerer Sinn, dem wir vertrauen können, nicht der äußere ... Ich weiß nicht, ob du verstehst? Ich kann das einfach nicht in Worte fassen.«
    »Ich glaube schon.«
    Plötzlich fasst er Mut. Einen gewaltigen Mut.
    »Ich wäre gern dein Geliebter.«
    »Nein.«
    »Auch nicht ein einziges Mal?«
    »Nein. Es gibt eine andere Frau, um die es geht. Verzeih mir, dass ich auch das weiß.« Sie kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Beide trinken aus ihren Gläsern.
    »Darf ich dich dann wenigstens wiedersehen?«
    »Ja, natürlich.«
     
     
    Bevor sie aufbrechen, ergreift sie noch einmal seine Hände.
    »Sei vorsichtig, Leon«, sagt sie. »Auf dem Friedhof musst du vorsichtig sein, und du darfst nicht schummeln.«
    Nein, er denkt nicht daran, zu schummeln. Er nicht.
     

40
     
    D as Ergebnis steht bereits am Tag nach der Untersuchung fest. Eine Krankenschwester ruft vom Krankenhaus an und bittet ihn, am gleichen Nachmittag vorbeizuschauen.
    Vorbeischauen? Vielleicht hört er ja ihrer Wortwahl schon an, welchen Bescheid er bekommen wird.
    Der Arzt ist ein buckliger alter Mann mit sanften Augen und einem ganz spitzen, kahlen Schädel. Irgendetwas stimmt mit einem seiner Augen nicht, nur
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