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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Weg durch die Meerenge Tribut an König Priamos und an Troia entrichten mußten. Während sie auf die Schiffe hinunterblickte, erfaßte sie plötzlich ein Schauder, der keinem körperlichen Gefühl glich, das sie bisher kannte. Ihr ganzer Körper erbebte…
    Sie lag in einer Ecke auf einem Schiff, das sich mit der Bewegung der Wellen hob und senkte. Ihr war übel, sie fühlte sich krank und erschöpft und zitterte vor Entsetzen und Schmerzen. Doch als sie zum Himmel über dem großen, in der Sonne schimmernden Segel hinaufblickte, sah sie den blauen Himmel, an dein Apollons Sonne strahlte. Ein Mann blickte leidenschaftlich, haßerfüllt und triumphierend auf sie hinunter. In einem Augenblick des Entsetzens prägte sich ihr dieses Bild für immer ein. Kassandra hatte noch nie echte Angst oder echte Scham erlebt, sondern nur vorübergehende Verlegenheit nach einem Tadel ihrer Mutter oder ihres Vaters. Jetzt kannte sie den Gipfel von beidem. Ein Teil ihres Bewußtseins sagte ihr, daß sie diesen Mann noch nie im Leben gesehen hatte, doch sie wußte, sie würde sein Gesicht mit der großen Hakennase nie vergessen, die wie der Schnabel eines Raubvogels wirkte, den Augen, die wie die Augen eines Falken glänzten, das grausame wilde Lächeln und das harte, vorspringende Kinn; ein schwarzbärtiges Gesicht, das sie mit Angst und Schrecken erfüllte.

    Von einem Atemzug zum nächsten war alles vorbei. Kassandra stand auf den Stufen, und die Schiffe lagen tief unter ihr im Hafen. Trotzdem wußte sie, noch vor einem Augenblick hatte sie als Gefangene auf einem der Schiffe gelegen -, das harte Deck unter dem Körper hob und senkte sich, der salzige Wind strich über sie hinweg, sie hörte das Klatschen des Segels und das Knarren der hölzernen Schiffsplanken. Wieder spürte sie das Entsetzen und das eigenartige Hochgefühl, das sie nicht verstehen konnte.
    In diesem Augenblick konnte sie nicht wissen, was geschehen war, oder warum es geschehen war. Kassandra drehte sich um und blickte zum Gipfel hinauf, wo der Tempel der Pallas Athene weiß über dem Hafen und der Stadt aufragte. Sie betete zu der jungfräulichen Göttin, daß alles, was sie gesehen und empfunden hatte, nichts anderes als ein Alptraum gewesen sei. Würde es eines Tages wirklich geschehen…? Würde sie als geschändete Gefangene auf dem Schiff liegen, als Beute dieses wilden Mannes mit dem Falkengesicht? Er glich keinem Troianer, den Kassandra kannte… Sie schüttelte das starre Entsetzen - ihres Alptraums? Ihrer Vision? - ab und blickte in das Landesinnere, wo sich der hohe heilige Berg Ida erhob. Irgendwo an seinen Hängen… nein, das hatte sie geträumt. Sie war nie auf den Hängen des Ida gewesen. Ganz oben lag ewiger Schnee und weiter unten, wie man ihr erzählt hatte, weideten auf den grünen Wiesen die vielen großen Herden ihres Vaters unter der Obhut von Hirten. Sie rieb sich heftig die Augen.  Wenn ich doch nur einen Blick auf das werfen könnte, was meine Augen nicht mehr sehen …
    Selbst Jahre später, als alles, was mit Prophezeiungen und Hellsehen zu tun hatte, für Kassandra zur zweiten Natur geworden war, wußte sie nie genau, wann das plötzliche Wissen sie überkam, das ihr sagte, was sie als nächstes tun mußte. Sie behauptete nie und glaubte auch nicht, die Stimme des Gottes zu hören. Das hätte sie gewußt und diese Stimme hätte sie sofort erkannt. Das Wissen war einfach da als Teil ihres Wesens. Kassandra drehte sich um und kehrte schnell zum Palast zurück. Sie lief durch eine Straße, die sie kannte, und blickte beinahe traurig auf den Brunnen. Nein, sein Wasser war dafür nicht ruhig genug…
    Im Vorhof sah sie eine der Frauen ihrer Mutter und versteckte sich hinter einer Säule, denn sie befürchtete, die Frau sei vielleicht geschickt worden, sie zu suchen. Inzwischen gab es immer Ärger, wenn sie die Frauengemächer verließ.
    Wie dumm! Es nützt Hesione nichts, daß sie im Palast bleibt , dachte Kassandra ohne zu wissen, was sie damit meinte. Der Gedanke an Hesione machte ihr plötzlich Angst. Sie wußte nicht warum, aber sie hatte die Vorstellung, daß sie Hesione warnen sollte.  Warnen? Wovor? Warum? Nein, es würde nichts nützen. Was geschehen muß, wird geschehen.  Irgend etwas drängte sie, zu Hesione oder zu ihrer Mutter, zu Polyxena oder zu ihrer Amme zu eilen, zu irgend jemandem, der ihr über den namenlosen Schrecken hinweghelfen würde - ein Schrecken, bei dem ihr die Knie zitterten, und bei dem es ihr im Magen
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