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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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fragen. Sie hätte ihre Schwester fragen können, aber für Polyxena schien nichts anderes wichtig zu sein als das Geschwätz mit den Kammerfrauen über hübsche Kleider, Schmuck und Hochzeiten. Kassandra fand das langweilig, auch wenn die Frauen ihr versicherten, sie würde sich mehr für die wichtigen Dinge im Leben einer Frau interessieren, wenn sie erst älter war. Kassandra wunderte sich, weshalb diese Dinge so wichtig sein sollten. Auch sie betrachtete gerne hübsche Kleider und Schmuck, hatte jedoch nicht den Wunsch, selbst so etwas zu tragen. Sie konnte die schönen Sachen an Polyxena und ihrer Mutter bewundern. Die Kammerfrauen ihrer Mutter fanden das Verhalten des Mädchens ebenso merkwürdig wie Kassandra sie. Einmal hatte sie sich hartnäckig geweigert, ein Zimmer zu betreten, und gerufen: »Die Decke wird herunterfallen. « Drei Tage später bebte die Erde leicht, und die Decke stürzte ein.
    Die Zeit verging, eine Jahreszeit folgte der anderen. Troilos begann, zuerst zu krabbeln, dann zu gehen und zu sprechen. Schneller, als Kassandra für möglich gehalten hätte, war er beinahe so groß wie sie selbst. Polyxena überragte inzwischen Hekabe und wurde in die Mysterien der Frauen eingeweiht.
    Kassandra sehnte sich inbrünstig nach der Zeit, wenn man auch sie als Frau anerkennen würde, obwohl sie nicht erkennen konnte, daß die Einweihung Polyxena klüger gemacht hätte. Würde der Gott wieder zu ihr sprechen, wenn man sie in die Mysterien eingeweiht hatte? In all den Jahren hatte sie seine Stimme nicht wieder gehört. Vielleicht hatte ihre Mutter doch recht, und sie hatte sich alles nur eingebildet. Kassandra sehnte sich danach, die Stimme wieder zu hören, und sei es auch nur, um sicher sein zu können, daß alles keine Einbildung gewesen war. Aber in ihr Sehnen mischte sich Zögern; eine Frau sein, schien zu bedeuten, sich unwiderruflich zu verändern und all das zu verlieren, was sie zu Kassandra machte. Polyxena war nun an das Leben in den Frauengemächern gefesselt, und sie schien damit zufrieden zu sein. Der Verlust der Freiheit schien ihr nichts auszumachen, und sie schmiedete mit Kassandra auch keine Pläne mehr, wie sie hinunter in die Stadt laufen könnten. Bald war Troilos alt genug, um in den Räumen der Männer zu schlafen. Kassandra war inzwischen zwölf. Sie wuchs und erkannte an Veränderungen ihres Körpers, daß man auch sie bald zu den Frauen im Palast zählen würde, und man ihr dann auch nicht länger erlauben würde, nach Belieben herumzulaufen.
    Sie ließ sich gehorsam von der alten Amme ihrer Mutter das Spin nen und Weben beibringen. Hesione, die unverheiratete Schwester ihres Vaters, half ihr dabei, den Faden zu spinnen und für ihre Tonpuppe, die ihr immer noch lieb und teuer war, ein Kleidchen zu weben. Kassandra haßte die mühselige Arbeit, bei der ihr die Finger schmerzten, aber als sie fertig war, erfüllte sie Stolz auf ihr Werk. Kassandra teilte mit Polyxena und Hesione ein Zimmer in den Frauengemächern. Ihre Schwester war sechzehn und alt genug, um zu heiraten. Hesione, eine lebhafte junge Frau in den Zwanzigern, hatte die gleichen dunklen, lockigen Haare wie Priamos und strahlend grüne Augen. Nach den scheinbar sinnlosen Verhaltensregeln, die ihre Mutter und Hesione ihr aufzwangen, mußte Kassandra im Palast bleiben und alle interessanten Dinge übersehen, die sich draußen in der Stadt ereigneten. Aber an manchen Tagen gelang es ihr, den wachsamen Frauen zu entfliehen, und dann lief sie allein zu einem ihrer geheimen Plätze.
    Eines Morgens schlich sie aus dem Palast, lief durch die Straßen und schlug den Weg ein, der hinauf zu Apollons Tempel führte. Sie wollte nicht bis zum Tempel und hatte auch nicht das Gefühl, daß der Gott sie gerufen hatte. Sie sagte sich, sie werde es wissen, wenn es soweit sei. Auf halbem Weg drehte sie sich um, blickte zum Hafen hinunter und sah die Schiffe. Es waren die gleichen Schiffe, die sie an dem Tag gesehen hatte, als der Gott zu ihr sprach. Aber nun wußte Kassandra, die Schiffe kamen aus dem Süden, aus dem Inselreich der Achaier und aus Kreta. Sie wollten Handel mit den hyperboräischen Ländern treiben. Erregt dachte Kassandra daran, daß diese Schiffe in das Land des Nordwindes wollten, dessen Atem die großen Stiergötter Kretas erschaffen hatte. Sie wäre am liebsten mit den Schiffen in den Norden gefahren, aber sie wußte, das würde nie geschehen. Frauen durften nicht auf den großen Handelsschiffen reisen, die auf dem
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