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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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die Weinrebe und die Olive, also Wein und Öl.«
    »Aber heute gehen wir nicht zu ihrem Tempel, Mutter?«
    »Nein, Liebes. Die jungfräuliche Göttin ist zwar auch die Schutzherrin der Geburt, und ich sollte ihr ebenfalls opfern. Aber heute
    gehen wir zum Sonnengott Apollon. Er ist auch der Herr der Orakel; er hat die große Python erschlagen, die Göttin der Unterwelt, und wurde so auch Herr der Unterwelt.«
    »Sag mal, wenn die Python eine Göttin war, wie konnte er sie dann erschlagen?«
    »Ach, ich glaube, als Sonnengott ist er stärker als jede Göttin«, erwiderte ihre Mutter, während sie begannen, den Hügel in der
    Mitte der Stadt hinaufzusteigen. Die Stufen führten steil nach oben, und Kassandras Beine wurden beim Klettern müde. Einmal blickte sie zurück. Sie befanden sich inzwischen so hoch, so nahe dem Tempel, daß sie über die Stadtmauer hinweg die großen Flüsse sehen konnten, die die Ebene durchzogen, sich vereinigten und als großes silbernes Band zum Meer flossen.
    Einen Augenblick schien es ihr, als sei die Oberfläche des Meeres überschattet; Schiffe schienen die glitzernden Wellen zu verdunkeln. Sie rieb sich die Augen und fragte: »Sind das Vaters Schiffe?« 
    Hekabe drehte sich um und fragte: »Was für Schiffe? Ich sehe keine Schiffe. Ist das ein Spiel?«
    »Nein, ich sehe sie. Sieh doch, eines hat ein graues Segel… Nein, es war die Sonne in meinen Augen. Jetzt sehe ich sie nicht mehr.«
    Kassandras Augen brannten, und die Schiffe waren verschwunden. War dort wirklich etwas anderes als das gleißende Wasser gewesen?
    Die Luft schien so klar zu sein; überall tanzten kleine Funken und zauberten einen dünnen Schleier, der jeden Augenblick zerreißen oder sich heben konnte und den Blick in eine andere Welt freigeben würde, die hinter dieser Welt lag. Kassandra konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben. Ohne es zu wissen, spürte sie, daß es die Schiffe, die sie gesehen hatte, in jener anderen Welt gab. Vielleicht würde sie diese Schiffe eines Tages wirklich sehen. Kassandra war so jung, daß sie daran nichts Befremdliches fand. Ihre Mutter war weitergegangen, und Kassandra glaubte aus irgendeinem Grund, es würde die Königin beunruhigen, wenn sie noch einmal von den Schiffen sprach, die sie gesehen hatte, jetzt aber nicht mehr sehen konnte. Sie eilte hinter ihrer Mutter her, und ihr taten die Beine vom Treppensteigen weh.
    Der Tempel des Apollon Helios, des Sonnengottes, stand ein gutes Stück unterhalb des Gipfels des Hügels, an den die große Stadt Troia gebaut war. Über ihm erhob sich nur noch der große hohe Tempel der jungfräulichen Athene. Aber er war der schönste Tempel der Stadt. Er war aus glänzend weißem Marmor erbaut und hatte auf allen Seiten hohe Säulen. Man hatte Kassandra mehr als einmal gesagt, daß dieser Tempel auf einem steinernen Fundament stand, das Titanen gelegt hatten, schon ehe die ältesten Menschen der Stadt geboren worden waren. Das Licht war so grell, daß Kassandra die Augen mit den Händen schützte.  Wenn dieser Tempel das Haus des Sonnengottes ist, dann muß natürlich hier so starkes, immer währendes Licht scheinen , dachte Kassandra.

    Im Vorhof boten Händler alle möglichen Dinge an - Opfertiere, kleine Tonstatuetten des Gottes, Speisen und Getränke. Hekabe kaufte Kassandra die Scheibe einer süßen Melone. Sie glitt ihr köstlich durch die vom langen Anstieg trockene und staubige Kehle. Im Säulengang des nächsten Hofes war es kühl und schattig; einige der Priester und Würdenträger des Tempels erkannten die Königin und forderten sie ehrerbietig auf einzutreten.
    »Seid willkommen, Herrin«, sagte einer, »und auch die kleine Prinzessin. Möchtet ihr hier Platz nehmen und euch ausruhen, bis die Priesterin dich sprechen kann?«
    Man führte die Königin und die Prinzessin zu einer Marmorbank im Schatten. Kassandra saß ruhig neben ihrer Mutter und war froh, aus der Hitze zu sein. Sie aß die Melone auf und wischte sich die Hände am Unterkleid ab. Sie sah sich nach einem Platz für die Schale um, denn es erschien ihr nicht richtig, die Schale unter den Augen der Priester und Priesterinnen einfach auf den Boden zu werfen. Sie rutschte von der Bank und entdeckte einen Korb, in dem bereits Obstschalen lagen, und warf ihre Schale hinein.
    Dann ging sie langsam durch den Saal und fragte sich, was sie sehen würde. Welche Unterschiede bestanden wohl zwischen dem Haus eines Gottes und dem Haus eines
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