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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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war noch nie so zornig mit ihr gewesen, und sie verstand nicht, weshalb sie sich wegen einer solchen Sache so aufregte.
    »Weißt du nicht, daß Schlangen giftig und gefährlich sind?«
    »Aber sie gehören dem Gott«, verteidigte sich Kassandra. »Er würde nie zulassen, daß sie mich beißen.«
    »Du hast großes Glück gehabt«, sagte die Priesterin.
    »Aber du nimmst sie doch auch in die Hand und fürchtest dich nicht« , erwiderte Kassandra.
    »Ich bin eine Priesterin und habe gelernt, mit ihnen umzugehen.« 
    »Apollon hat gesagt, ich soll seine Priesterin werden. Und ER hat mir gesagt, ich darf sie anfassen«, erwiderte Kassandra. Die Priesterin betrachtete sie nachdenklich und stirnrunzelnd.
    »Ist das wahr, mein Kind?«
    »Natürlich ist es nicht wahr«, erklärte Hekabe scharf. »Sie erfindet eine Geschichte! Sie erfindet immer alles mögliche.«
    Das war so ungerecht und falsch, daß Kassandra zu weinen begann. Ihre Mutter packte sie wieder am Arm und zog sie nach draußen. Sie schob Kassandra vor sich her und so heftig die Stufen hinunter, daß sie stolperte und beinahe gefallen wäre. Der Tag schien all seinen goldenen Glanz verloren zu haben. Der Gott war verschwunden; Kassandra spürte SEINE Gegenwart nicht mehr, und deshalb hätte sie noch mehr weinen können als wegen des schmerzenden Griffs ihrer Mutter am Arm.
    »Warum hast du so etwas gesagt«, schimpfte Hekabe wieder. »Bist du immer noch ein so kleines Kind, daß ich dich keine halbe Stunde allein lassen kann, ohne daß du etwas anstellst? Du spielst mit den Tempelschlangen - weißt du denn nicht, wie gefährlich Schlangen sind?«
    »Der Gott hat gesagt, ER wird nicht zulassen, daß sie mir etwas tun«, erwiderte Kassandra trotzig. Ihre Mutter preßte daraufhin ihren Arm noch einmal so fest, daß sie einen blauen Fleck bekam. 
    »So etwas darfst du nicht sagen.«
    »Aber es ist die Wahrheit. «
    »Unsinn. Wenn du so etwas noch einmal sagst«, erwiderte die Mutter verärgert, »werde ich dich schlagen!« Kassandra schwieg. Was geschehen war, war geschehen. Sie wollte nicht geschlagen werden. Aber sie kannte die Wahrheit und konnte sie nicht leugnen. Warum konnte die Mutter ihr nicht vertrauen? Sie log nie. Kassandra schmerzte es sehr, daß ihre Mutter und die Priesterin glaubten, sie hätte sich eine Geschichte ausgedacht, und als sie schweigend und ohne weiteren Protest die vielen Stufen hinunterstieg, während die Königin sie fest an der Hand hielt, dachte sie an Apollon und an seine sanfte Stimme. Ohne, daß es ihr bewußt wurde, wartete tief in ihrem Innern bereits etwas auf seinen Ruf.

4

    Beim nächsten Vollmond gebar Hekabe einen Sohn; er sollte ihr letztes Kind sein. Sie nannten ihn Troilos. Kassandra stand am Bett ihrer Mutter im Geburtszimmer und blickte auf das Gesicht ihres Brüderchens. Sie war nicht überrascht. Aber als sie die Mutter daran erinnerte, daß sie seit dem Tempelbesuch wußte, daß das Kind ein Sohn sein würde, antwortete Hekabe sehr unfreundlich. »Ja, das stimmt«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Aber glaubst du wirklich, ein Gott habe mit dir gesprochen? Du willst dich nur wichtig machen, Kassandra. Ich will nichts davon wissen. So klein bist du nun auch wieder nicht mehr. Und es ist einfach kindisch, so etwas zu behaupten.«
    Kassandra dachte wütend: Aber das Wichtige ist, ich habe es gewußt . Der Gott hat zu mir gesprochen. Sprach er also doch zu kleinen Kindern? Und warum ist Mutter darüber so zornig? Sie wußte, daß die Göttin zu ihrer Mutter sprach; sie hatte gesehen, wie die Göttin beim Segen über Hekabe kam, und wenn sie zur Erntezeit die Göttin beschwor.
    »Hör zu, Kassandra«, sagte die Königin sehr ernst. »Es ist das größte Verbrechen, etwas anderes als die Wahrheit über einen Gott zu sagen. Apollon ist der Gott der Wahrheit. Wenn du SEINEN Namen mißbrauchst, wird ER dich bestrafen, und SEIN Zorn ist schrecklich.«

    »Aber ich sage die Wahrheit. Der Gott hat zu mir gesprochen«, erklärte Kassandra entschieden. Ihre Mutter seufzte. Nun ja, auch das gab es…
    »Ich glaube, dann muß man dich IHM überlassen. Aber ich warne dich, sprich mit niemandem darüber. «
    In der ganzen Stadt herrschte Freude, da es nun noch einen Prinzen im Palast gab, noch einen Sohn des Priamos von seiner Königin. Kassandra blieb sich von nun an viel selbst überlassen. Sie verstand nicht, weshalb ein Prinz soviel wichtiger sein sollte als eine Prinzessin. Es nutzte nichts, ihre Mutter nach dem Grund zu
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