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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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flau wurde. Aber worin ihre Mission auch bestehen mochte, sie war ihr wichtiger als jede eingebildete oder vorausgesehene Gefahr für einen anderen. Kassandra kauerte immer noch hinter der Säule; die Frau war nicht mehr zu sehen.  Ich hatte Angst, sie könnte mich entdecken.
    Angst? Nein!  Bis jetzt wußte ich nicht, was das bedeutet!  Nach dem Entsetzen, in das sie die Vision von dem Schiff sie versetzt hatte, wußte Kassandra, daß ihr alles andere keine Angst mehr einjagen konnte. Trotzdem wollte sie nicht, daß sie jemand in diesem Zustand sah. Vielleicht würde man sie daran hindern zu tun, was getan werden  mußte . Sie eilte in die Frauengemächer und fand eine Tonschale, die sie mit frischem Wasser aus der Zisterne füllte. Dann kniete sie sich vor die Schale.
    Sie starrte in das Wasser und sah zunächst nur ihr Gesicht, das sie wie ein Spiegelbild ansah. Dann zogen Schatten über die Wasseroberfläche, und Kassandra wußte, jetzt sah sie das Gesicht eines Jungen vor sich, das ihrem Gesicht völlig glich: das gleiche dichte, glatte dunkle Haar; die gleichen tiefliegenden Augen unter langen dichten Wimpern. Er blickte durch sie hindurch auf etwas, das sie nicht sehen konnte…
    Die Sorge um das Wohlergehen der Schafe; er kennt jedes beim Namen, überlegt sich jeden Schritt. Er hat das innere Wissen, wo sie sind, und was für jedes einzelne getan werden muß, als leite ihn eine geheimnisvolle Weisheit.
    Kassandra wünschte sich leidenschaftlich, man würde ihr ebenso verantwortungsvolle und wichtige Arbeiten anvertrauen. Sie kniete einige Zeit vor der Schale und fragte sich, weshalb sie ihn gesehen hatte, und was es bedeuten könne. Sie merkte nicht, daß ihre Muskeln sich verkrampft hatten, und daß sie fror, auch nicht, daß ihr die Knie von der langen, unbeweglichen Haltung schmerzten. Sie blickte durch seine Augen, teilte seinen Ärger, wenn eines der Tiere stolperte, teilte seine Freude über die Sonne. Ihre Gedanken streiften die flüchtigen Sorgen und Ängste - vor Wölfen oder größeren und gefährlicheren Tieren … Sie war der fremde Junge, dessen Gesicht ihr als Spiegelbild entgegenblickte. Ein plötzlicher Schrei riß sie aus dieser hingebungsvollen Vereinigung.
    »He! Hilfe! Oh, Feuer, Mord. Vergewaltigung! Hilfe!« Im ersten Augenblick glaubte Kassandra, der Junge habe gerufen. Aber nein, es war eine andere Art Schrei. Sie hatte ihn mit den Ohren gehört, und er riß sie aus ihrer Trance.
    Wieder eine Vision, aber diesmal ohne Schmerz und Angst. Kommen diese Visionen von einem Gott?  Kassandra wurde sich mit einem schmerzlichen Ruck bewußt, wo sie war: im Hof der Frauengemächer.
    Plötzlich roch sie Rauch, und die Schale, in die sie immer noch starrte, verdunkelte sich, kippte zur Seite, und das Wasser floß auf den Boden. Es nahm die Stille der Vision mit sich, und Kassandra stellte fest, daß sie sich wieder bewegen konnte.
    Fremde Schritte hallten auf dem Boden; sie hörte ihre Mutter schreien und rannte zum Gang. Er war leer; sie hörte nur das Geschrei der Frauen. Dann sah sie zwei Männer in Rüstung, die Helme mit hohen Helmbüschen trugen. Die Männer waren groß - größer als ihr Vater oder der junge Hektor; es waren kräftige, behaarte, wild aussehende Männer, unter deren Helmen blonde Haare hervorhingen. Der eine trug eine schreiende Frau über der Schulter. Entsetzt erkannte Kassandra die Frau: es war ihre Tante Hesione. Kassandra wußte nicht, was geschah, oder warum; sie war immer noch halb in ihrer Vision gefangen. Die Krieger stürmten an ihr vorbei, so dicht und so schnell, daß der eine sie beinahe umgestoßen hätte. Sie wollte hinter ihnen herlaufen, weil sie die unbestimmte Vorstellung hatte, sie könnte Hesione irgendwie helfen. Aber die beiden Männer waren bereits im Freien und stürmten die Stufen vor dem Palast hinunter. Als könnte Kassandra ihnen mit ihrer inneren Sicht folgen, sah sie die schreiende Hesione, die durch die Stadt getragen wurde. Die Menschen stoben vor den Eindringlingen auseinander, als könne der Blick dieser Männer sie wie das Haupt der Medusa in Stein verwandeln - als dürften sie die Achaier nicht nur nicht ansehen, sondern als dürften sie auch von ihnen nicht gesehen werden.
    Von der Unterstadt drang wildes Geschrei herauf, und es schien so, als würden alle Frauen im Palast im Chor miteinstimmen.
    Die Schreie hielten eine Weile an und wurden dann zu einer herzzerreißenden Klage. Kassandra machte sich auf die Suche nach ihrer Mutter.
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