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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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lange. Schließlich sagte sie: »Nein, ich kann es nicht alles noch einmal durchleben. « Die Kinder jammerten enttäuscht. »Kannst du uns nicht eine andere Geschichte singen?« »Viele«, erwiderte der Spielmann, »aber ich möchte keine Geschichte erzählen, die du als Lüge verspottest. Willst du mir nicht die Wahrheit sagen, damit ich sie an anderen Orten berichten kann?«
    Sie schüttelte energisch den Kopf.
    »Die Wahrheit ist keine so gute Geschichte. «
    »Kannst du mir nicht wenigstens sagen, wo meine Geschichte von der Wahrheit abweicht? Dann könnte ich sie ändern.«
    Sie seufzte. »Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich es versucht«, erwiderte sie. »Aber kein Mensch will die Wahrheit glauben. Deine Geschichte berichtet von Helden und Königen, nicht aber von Königinnen! Du singst von Göttern, aber nicht von Göttinnen!« 
    »Nein, so ist es nicht«, widersprach der Sänger, »ein Großteil der Geschichte handelt von der schönen Helena, die von Paris geraubt wurde, und von Leda, Helenas Mutter, und ihrer Schwester Klytaimnestra. Ich erzähle wahrheitsgetreu, wie Leda vom großen Zeus verführt wurde, der ihr in Gestalt ihres Gemahls, des Königs von Sparta, erschien… «
    »Ich wußte, du würdest mich nicht verstehen«, sagte die alte Frau, »denn erstens gab es in diesem Land keine Könige, sondern Königinnen. Sie waren die Töchter der Göttinnen und sie wählten sich nach Belieben Gefährten. Dann kamen die Anhänger der Himmelsgötter, das Pferdevolk, das Eisen benutzte, in unser Land. Und als die Königinnen sie zu ihren Gefährten machten, nannten sie sich Könige und beanspruchten das Recht zu herrschen. So gerieten die Götter und die Göttinnen in Streit, und es kam eine Zeit, als sie ihre Uneinigkeit nach Troia trugen … « Sie brach unvermittelt ab.
    »Genug«, sagte sie. »Die Welt hat sich verändert. Ich sehe schon, daß du mich für eine alte Frau hältst, die nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Das war schon immer mein Schicksal: Ich muß die Wahrheit sagen, und niemand glaubt sie mir. So ist es gewesen, und so wird es immer sein. Singe, was du willst, aber verspotte nicht die Wahrheit an meinem eigenen Herd. Es gibt genug Geschichten. Erzähle uns von Medea, der Herrin von Kolchis, und vom goldenen Vlies, das Jason aus ihrem Tempel gestohlen hat - wenn es wirklich so gewesen ist. Ich wage zu behaupten, daß auch dieser Geschichte eine andere Wahrheit zugrunde liegt. Aber ich kenne sie nicht, und es ist für mich nicht wichtig, was für eine Wahrheit es sein mag. Ich bin seit vielen, vielen Jahren nicht mehr in Kolchis gewesen.« Sie griff nach ihrer Spindel und begann, wieder ruhig zu spinnen.
    Der Sänger neigte den Kopf.
    »So sei es, Herrin Kassandra«, sagte er. »Wir alle glaubten, du hättest in Troia den Tod gefunden oder bald danach in Mykenai. «
    »Dann sollte dir das beweisen, daß die Geschichte zumindest in einigen Dingen nicht der Wahrheit entspricht«, sagte die alte Frau - allerdings leise.
    Es ist immer noch mein Schicksal. Ich muß die Wahrheit sagen, und alle halten mich nur für verrückt. Bis heute hat der Sonnengott mir nicht vergeben…

Erstes Buch:
    Apollons Ruf

1

    In dieser Jahreszeit blieb es lange hell; aber im Westen war das letzte Glühen des Sonnenuntergangs verblaßt, und vom Meer trieb Nebel herein.
    Leda, die Königin von Sparta, erhob sich von ihrem Bett, wo Tyndareos, ihr Gefährte, immer noch lag. Wie immer, wenn sie sich geliebt hatten, war er in tiefen Schlaf gefallen; er bemerkte nicht, wie sie das Bett verließ, sich ein leichtes Gewand überwarf und in den Hof vor den Frauengemächern hinaustrat.
    Frauengemächer,  dachte die Königin ärgerlich,  dabei ist es mein eigener Palast. Man könnte glauben, ich und nicht er sei hier der Eindringling, er und nicht ich habe das Landrecht in Sparta. Die Erdmutter kennt nicht einmal seinen Namen.
    Sie hatte sich damals keineswegs gesträubt, als er kam und um ihre Hand anhielt, obwohl er einer der Eindringlinge aus dem Norden war, die den Donner, die Eiche und die Himmelsgötter anbeteten; er war ein rauher, behaarter Mann, der an Speer und Rüstung das verhaßte schwarze Eisen trug. Und doch gab es seinesgleichen jetzt überall; sie forderten die Hochzeit nach ihren eigenen Gesetzen, als hätten ihre Götter die Göttin, der das Land, die Ernte und die Menschen gehörten, von ihrem himmlischen Thron gestoßen. Von einer Frau, die einen dieser Träger des Eisens heiratete, verlangten die
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