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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Frauen ihres Stammes glaubten, daß Zwillinge getötet werden mußten. Aber sie hatte gehört, daß der Grund dafür nur war, daß eine Frau praktisch unmöglich zwei Kinder gleichzeitig stillen konnte. Zumindest mußten ihre Zwillinge nicht der Armut eines Stammes geopfert werden. Es gab genug Ammen in Troia; sie hätte beide Kinder behalten können. Aber Priamos hatte es anders bestimmt. Sie hatte ein Kind verloren - aber dank des Segens der Göttin nur eins, nicht beide.
    Eine der Frauen murmelte so leise, daß Hekabe es beinahe nicht hörte: »Priamos ist verrückt! Er gibt einen Sohn weg und zieht eine Tochter groß!«
    Bei meinem Volk, dachte Hekabe, gilt eine Tochter nicht weniger als ein Sohn. Wenn dieses Mädchen in meinem Stamm geboren worden wäre, könnte ich sie als Kriegerin erziehen! Aber wenn sie in meinem Stamm geboren worden wäre, würde sie nicht mehr leben. Hier wird sie nur geschätzt, weil sie einen Brautpreis bringt, wenn sie wie ich an irgendeinen König verheiratet wird.
    Aber was würde aus ihrem Sohn werden? Würde er sein ganzes Leben unbekannt und unbeachtet als einfacher Hirte verbringen? Vielleicht war das besser als der Tod. Und der Gott, der ihr den Traum geschickt, und der deshalb für sein Schicksal verantwortlich war, würde ihn vielleicht beschützen.

3
    Das gleißende Licht, das sich auf dem Meer und auf dem weißen Stein brach, schmerzte in den Augen. Kassandra kniff geblendet die Augen zusammen und zupfte vorsichtig an Hekabes Ärmel.
    »Warum gehen wir heute in den Tempel«, fragte sie.
    In Wirklichkeit hatte sie nichts dagegen. Es kam nur selten vor, daß sie die Frauengemächer und noch seltener, daß sie den Palast verlassen durfte. Sie freute sich über den Ausflug, und ihr war es im Grunde gleichgültig, wohin sie gehen würden.
    Hekabe erwiderte freundlich: »Wir wollen beten, daß das Kind, das ich im Winter bekommen werde, ein Sohn ist.«
    »Warum, Mutter? Du hast schon einen Sohn. Ich finde, du solltest noch eine Tochter haben. Du hast nur zwei Mädchen. Ich hätte lieber eine Schwester.«
    »Das glaube ich«, sagte die Königin und lächelte. »Aber dein Vater möchte noch einen Sohn. Männer wollen immer Söhne, die heranwachsen, in ihren Heeren kämpfen und die Stadt verteidigen.« 
    »Ist Krieg?«
    »Nein, im Augenblick nicht. Aber wenn eine Stadt so reich ist wie Troia, gibt es immer wieder Kriege.«
    »Wenn ich noch eine Schwester bekomme, könnte sie vielleicht eine Kriegerin werden, wie du es gewesen bist. Sie könnte lernen, mit Waffen zu kämpfen, und die Stadt so gut wie ein Sohn verteidigen.« Kassandra überlegte. »Ich glaube, Polyxena könnte nicht kämpfen, sie ist zu weich und zu ängstlich. Ich wäre gerne eine Kriegerin, wie du es gewesen bist.«
    »Das glaube ich gern, Kassandra. Aber in Troia ist das nicht Brauch.«
    »Warum nicht?«
    »Was meinst du mit warum nicht? Ein Brauch ist ein Brauch. Es gibt keinen Grund dafür.«
    Kassandra blickte ihre Mutter zweifelnd an. Aber sie hatte bereits gelernt, keine Fragen mehr zu stellen, wenn sie diesen Ton bei ihr hörte. Sie hielt ihre Mutter insgeheim für die königlichste und schönste Frau der Welt. In ihrem weit ausgeschnittenen Mieder und dem gestuften Rock wirkte sie groß und stark, aber Kassandra glaubte mittlerweile nicht mehr, daß sie so allwissend war wie die Göttin. In den vergangenen sechs Jahren hatte sie beinahe jeden Tag gehört, wie das von ihrer Mutter behauptet wurde, und Jahr für Jahr weniger geglaubt. Aber wenn Hekabe in diesem Ton sprach, wußte Kassandra, sie würde keine bessere Erklärung bekommen.
    »Erzähle mir, Mutter, von der Zeit, als du eine Kriegerin warst.« 
    »Ich gehöre zu den Nomaden, zum Stamm der Amazonen«, begann Hekabe. Sie war beinahe immer bereit, über ihr früheres Leben zu erzählen - seit ihrer letzten Schwangerschaft sogar noch bereitwilliger, wie Kassandra dachte. »Unsere Väter und Brüder gehörten zum Pferdevolk, und sie waren sehr tapfer.«
    »Sind sie Krieger?«
    »Nein, Kind. Bei den Reiterstämmen sind die Frauen die Krieger. Die Männer sind Zauberer und Heiler; sie wissen alles über Bäume und Kräuter.«
    »Kann ich bei ihnen leben, wenn ich größer bin?«
    »Bei den Zentauren? Natürlich nicht; Frauen können nicht in einem Männerstamm aufwachsen. «
    »Nein, ich meine bei deinem Stamm, den Amazonen.«
    »Ich glaube, dein Vater würde das nicht gerne sehen«, sagte Hekabe und dachte, diese kleine, ernste Tochter hätte sehr gut
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