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Die Fastnachtsbeichte

Die Fastnachtsbeichte

Titel: Die Fastnachtsbeichte
Autoren: Carl Zuckmayer
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Geselligkeit sei, und gerade das, der Wunsch, die berühmte
Mainzer Fastnacht mitzumachen, habe sie sozusagen Hals über Kopf in den
nächsten und schnellsten D-Zug getrieben. Ihr Gepäck? Das sei wohl noch
unterwegs, aber sie könne in ihrem Täschchen (dabei geriet sie ins Stottern und
in ein unsicheres, fehlerhaftes Deutsch) dummerweise den Schein nicht finden —
am Bahnhof, ja am Hauptbahnhof habe sie sich an einem Schalter nach der
Verbindung, den Fahrzeiten des Dampfschiffs erkundigt und dabei — sie konnte
plötzlich fast nicht weiterreden wie unter einer sie stoßhaft überfallenden Depression
— »dort habe ich ihn verloren«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich sogar
mit Tränen, als handle es sich um einen ganz anderen Verlust als um den eines
Gepäckscheins. »Dort habe ich ihn verloren«, wiederholte sie. Nun, meinte
Bettine, beschwichtigend, das Gepäck könne man wohl auf jeden Fall auslösen,
und bis es ankomme, ließe sich ihr leicht mit allem Nötigen aushelfen — sogar
mit einem Maskenballkostüm, das sie wohl sowieso nicht mitgebracht habe? —
Aber, fragte Jeanmarie, den das sofort einsetzende Kleidergespräch der Mädchen
langweilte, warum habe sie denn nicht wenigstens vom Bahnhof aus angerufen, man
hätte sie natürlich abgeholt, oder jemanden an die Haltestelle des Dampfschiffs
geschickt — und wie sie denn überhaupt ihren Weg heraufgefunden habe? — Das sei
leicht gewesen, der Mann am Billettschalter des Dampfschiffs habe ihr die
Richtung gezeigt, aber dann — sie schauerte etwas zusammen, und es sah aus, als
wolle ihr Gesicht wieder gefrieren — , ja, dann sei ihr etwas Merkwürdiges,
Erschreckendes passiert... Nämlich? — Nämlich, eine alte, oder vielleicht auch
nicht so alte, aber ungepflegte, ärmliche, wohl auch gewöhnliche Frau, die sie
in der Nähe des Hoftors getroffen und gefragt habe, ob dies das Gut des Herrn
Panezza sei — sie zögerte oder suchte nach Ausdruck — , die habe sie statt
einer Antwort beschimpft... von der sei sie (sie gebrauchte das Wort mit einem
südländischen Pathos) verflucht worden... »Wie denn, beschimpft,
verflucht?« fragte Jeanmarie betroffen. — Die Frau habe zunächst getan, als
höre oder verstehe sie sie nicht, und ihr dann plötzlich ein gemeines Wort ins
Gesicht geschleudert, und die Hand gegen sie erhoben... Was für ein Wort — ob sie
sich nicht verhört hätte? oder falsch verstanden? — Nein, sie habe es ihr, ganz
laut, noch einmal nachgerufen, als sie dann die Stufen hinaufgelaufen sei:
»Verdammte Hur«, oder »Verfluchtes Hurenmensch« — sie konnte sich nicht
getäuscht haben...
    »Ach«, sagte Jeanmarie mit einem
verlegenen Lachen, »das war die Bäumlern. Es tut mir leid, daß sie dich
erschreckt hat — die spinnt ein bißchen. Sie meint das nicht so.« — »Was sie
meint, weiß man nicht genau«, erklärte Bettine, »aber ich glaube, sie ist
harmlos, nur nicht ganz richtig im Kopf. Sie war Jeanmaries Amme als junges
Ding, da unsre Mutter krank war und nie stillen konnte, und sie haßt alle
jungen Frauenzimmer, warum, weiß man nicht. Aber sie ist halt arm, und wenn wir
Gesellschaft im Haus haben, holt man sie zum Geschirrspülen, damit sie was
verdient und ein paar Restertöpfchen mit heimnehmen kann...« — »Erwartet man
denn«, fragte Viola, »heute Gesellschaft im Haus?« — »Allerdings«, sagte Jeanmarie,
und zwischen ihm und Bettine flog ein Blick gemeinsamer, temperiert-spöttischer
Verzweiflung hin und her... »Eine ganz besondere Gesellschaft sogar, über die
du dich vielleicht ein wenig wundern wirst, aber es kommt deinem Wunsch, die
Mainzer Fastnacht zu erleben, aufs allerschnellste entgegen — du wirst sogar gradezu
in ihr inneres Sanctum eingeführt und ihrer allerhöchsten Kurie konfrontiert
werden...« — »Wieso denn das«, fragte Viola verwirrt und mit einem fast
ängstlichen Ausdruck, und ob sie denn, als Fremde, bei einer so internen
Angelegenheit nicht stören werde? »Keineswegs«, rief Jeanmarie, »die
unerwartete Anwesenheit eines hübschen Mädchens wird höchstens die Stimmung
steigern, die sowieso gewiß schon recht ausgelassen ist. Unser Vater«, fuhr er,
mit einem halb lachenden, halb klagenden Blick zu Bettine fort, »ist nämlich
ein ›alter Narr‹ — das bedeutet hier nichts Despektierliches, sondern nur, daß
er von Jugend auf zum Präsidenten des einheimischen Karnevalvereins gehört und
sich die Pflege der Fastnacht, ihrer Gebräuche, Zeremonien, Festivitäten, zu
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