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Die Farben der Freundschaft

Titel: Die Farben der Freundschaft
Autoren: Linzi Glass
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Soweto ein Huhn besitzt. Eine sichere Nahrungsquelle. Damit ist man viel besser dran als manche, die im Müll nach Essensresten für sich und ihre Kinder suchen müssen.«
    Den Blick aus seinem kleinen gesprungenen Fenster hielt Julian auf seinen Bildern fest: eine gebeugte, runzlige alte Frau, auf dem wackligen Kopf einen Korb mit Wäsche balancierend, die sie an einer Leine aufhängt; ein von Narben übersäter junger Tsotsie vor einer Shebeen , einer illegal betriebenen Trinkhalle, der eine gebrochene Flasche in der Hand hält; eine Mutter mit großen melancholisch blickenden Augen, die im Rinnstein vor der einzigen Free Clinicihr Baby stillt, nicht weit davon das große Baragwanath-Krankenhaus; ein etwa zehnjähriger Junge, schlafend neben einer Außentoilette, und rostüberzogene Rohre, aus denen stinkendes Wasser sickert, der Kopf des Jungen im Dreck. Das war die Aussicht aus Julians Zimmer in Soweto.
     
    Die Aussicht aus meinem Schlafzimmer bot den Blick auf üppige Gärten, doch meine Eltern hatten mir schon frühzeitig erklärt, dass die Welt, in der wir lebten, nicht in Ordnung war – dass es nicht richtig war, wenn Menschen ihrer Hautfarbe wegen in separaten Vierteln leben und in separaten Bussen fahren mussten und generell anders behandelt wurden. Doch indem meine Eltern den Schleier der Ignoranz vor meinen Augen wegzogen, schufen sie eine andere Art von Trennung. Sie machten mich zum Außenseiter, denn ich lebte in einer verborgenen Welt, die nur hinter unserem großen eisernen Eingangstor existierte. Hier, in der Sicherheit und privaten Atmosphäre unseres Hauses, wurden Menschen so behandelt, als ob Hautfarbe keine Rolle spielte. In manchen Nächten wurden bei uns manchmal Versammlungen der illegalen Untergrundorganisation African National Congress abgehalten, auf denen Vater oft der einzige Weiße war. Zwischen den rostbraun-goldenen Geranienbeeten am Rand der makellos gepflegten Rasenflächen fanden Nachmittagstees für Mutters liberales, kunstsinniges Publikum statt. Bei Crumpets und Scones sprach man hier Xhosa und Zulu ebenso häufig wie Englisch. Die allgegenwärtige Bedrohung, dass unsere Welt jederzeit durch eine Polizeirazzia auf den Kopf gestellt werden konnte, zwang mich zu größter Verschwiegenheit in der Schule. Was zu Hause geschah, musste zu Hause bleiben. Allerdings erkannten wir damals nicht, dass unser eisernes Tor den Hass nicht aussperren konnte.
     
    »Es liegt an den Glassplittern in den Augen der Menschen, dass sie die Welt nur in kleinen Scherben sehen. Könnte man die Splitter aus ihren Augen entfernen, könnten sie klar sehen«, sagte mein Vater oft. Er liebte das Märchen Die Schneekönigin , und seit meinem fünften Lebensjahr hat er es mir immer wieder erzählt. Ich glaube, als David, mein Vater, als Partner bei einer angesehenen Anwaltskanzlei einstieg, erwartete er – stets der Idealist –, nur gute Menschen mit wirklich ernsthaften Problemen zu vertreten. Aber er fand schnell heraus, dass es viele fragwürdige Personen gab, deren Sache er verfechten musste. Korrupten Weißen aus der Klemme zu helfen war jedoch nicht seine Vorstellung vom Beruf eines Anwalts, und so fing er an, Fälle zu suchen, bei denen er die entrechteten Schwarzen unterstützen konnte. So hatte er das Gefühl, etwas bewirken zu können und all die Jahre nicht umsonst studiert zu haben.
    Mein Vater hatte volles schwarzes, gewelltes Haar und war von kräftiger Statur. Er hatte große Hände und starke Finger, mit denen er entschlossen zupacken konnte. Nie sprach er zu jemandem von oben herab. Jeder Einzelne war ihm wichtig. Die Geschichte von der Schneekönigin liebte er, weil es darin um das Bemühen geht, das Wahre und Richtige im Leben zu sehen. Wieder und wieder hat er mir dieses Märchen erzählt, während ich mit meinen flauschigen Häschenpantoffeln an den Füßen in dem Ledersessel seines warmen Arbeitszimmers saß und heiße aufgeschäumte Milch trank.
    Julians Lieblingsgeschichte war die von Harold und der roten Kreide. An einem unserer vielen gemeinsamen Nachmittage in dem strahlend weißen Atelier, während er mit Kohle zeichnete und skizzierte, erzählte er mir davon.
    »Ich habe diese Geschichte gehört, als ich noch ein kleiner Piccanin war. Eine weiße Madam hat ihrem Sohn Crockett Johnsons Kinderbuch Harold and the Purple Crayon vorgelesen. Ich war dort, um meiner Mutter beim Falten der vielen Laken und Tücher zu helfen. Meine Mama arbeitete damals drei Tage die Woche in einem
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