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Die Farben der Freundschaft

Titel: Die Farben der Freundschaft
Autoren: Linzi Glass
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steinernen Torpfosten – dem Eingang des Schulgeländes – hindurchzudrängen.
    In weniger als einer Minute würde ich hineingespült werden in die Woge Rad fahrender und Schultaschen tragender Schüler, die zu ihren Unterrichtsstunden eilten. An manchen Tagen bremste ich oben auf der Kuppe, um noch einmal kurz innezuhalten, denn sobald ich mich im Leerlauf hangabwärts rollen ließ, wurde ich zu Ruby, dem in der Schule allseits beliebten Mädchen. Von dem sehnlichen Wunsch, jemand würde mich so kennen, wie ich wirklich war, wurde mir fast schwindlig.
     
    »Man kann sich im Leben nicht nur von Gefühlen leiten lassen«, versuchte mein Vater mir zu erklären, als ich ihm einmal sagte, ich fühle mich manchmal überfordert von der Anstrengung, unser Leben zu Hause immer geheim halten zu müssen. »Wenn man sein Leben unter Kontrolle haben will, muss man seine Gefühle unter Kontrolle halten. Sie sollen immer vorhanden sein, aber sie dürfen nie die Oberhand bekommen«, sagte er und sah mich besorgt an.
    Ich versuchte, seine Worte zu beherzigen und mich nicht von meinen Gedanken und Ängsten überwältigen zu lassen, aber ich war nicht wie mein Vater. Wahrscheinlich lag es an seiner Charakterstärke, dass er sowohl einen Mörder als auch einen unschuldigen, missbrauchten Schwarzen vor Gericht vertreten konnte, beide in einer Woche. In seinem Verständnis von Recht kamen ihm seine Gefühle nicht in die Quere, sie zwangen ihn nicht dazu, seine persönlichen Überzeugungen aufzugeben.
    »Bleib ruhig, bleib fest, gib nichts preis von dir«, mahnte ich mich energisch, als ich schließlich den Fuß von der Bremse nahm, den Hügel hinabrollte und mich unter die Menge mischte.
    »Hey, Ruby!«
    »Wir sehen uns in der vierten.«
    »Warte nachher am Kiosk auf mich, ja?«
    Die Satzfetzen meiner Freunde flogen mir zu.
    Ich lächelte.
    Jetzt war ich eine von ihnen.

3
    IN der Geografiestunde streichelten plötzlich Desmonds Hände über mein Haar. Ein ruhiges, gleichmäßiges Streicheln, das mich dazu bringen sollte, mich umzudrehen. Ich tat es nie. Nach minutenlangen vergeblichen Bemühungen beugte er sich über seinen Tisch nach vorn und versuchte, so dicht wie möglich an mein Ohr zu kommen.
    »Los, Ruby, dreh dich mal um! Ich will dir was zeigen …
    Sein Atem war warm und roch nach Zimt. Immer steckten Kaugummipapierchen in seinem Tintenfass. Desmond verströmte guten Atem und den Flair des Reichtums alteingesessener Familien, aber gute Erziehung repräsentierte er nicht unbedingt.
    Unsere Tische waren Miniatur-Antikmöbel aus Eiche, angeschafft beim Bau der Schule nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der Tischplatte war nie genug Platz für unsere großformatigen Schulbücher, und ich fragte mich oft, ob die Schüler damals vielleicht kleiner gewesen waren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie durch dieselben Tore und über denselben Schulhof gerannt waren. Ob es da auch lästige reiche Jungen wie Desmond Granger gegeben hatte, die der Meinung waren, sie hätten einen selbstverständlichen Anspruch auf alles und jeden?
    »Ich hab was für dich, mein Rotes Juwel …« Desmond bohrte mir den Finger in die Schulter.
    Ich schüttelte seine Hand ab und stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Lass das, Des!«, zischte ich.
    »Kann jemand die drei Hauptexportartikel von Ecuador nennen?« Miss Radcliffe drehte sich zur Tafel um und schrieb in Großbuchstaben: EXPORT .
    »Rubine!«, plärrte Desmond.
    Die Klasse kicherte, und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Ich trat nach hinten gegen Desmonds Stuhl.
    Miss Radcliffe wirbelte herum und warf Desmond und mir einen zornigen kalten Blick aus ihren Knopfaugen zu.
    »Ihr zwei lasst sofort dieses alberne Getue und …«
    »Wir haben kein Getue!«, platzte ich heraus.
    Wieder Gekicher.
    Meine beste Freundin Monica sah mich an, rollte mit den Augen und warf mir einen Da-haben-wir’s-wieder-Blick zu. Sie warf ihre lange blonde Mähne zurück und schüttelte den Kopf über Desmond. Eine Mischung aus Missbilligung und Flirtversuch.
    Monica und ich waren in allem das Gegenteil. Sie war hell, und ich war dunkel, sowohl was die Haarfarbe als auch das Wesen betraf. Vermutlich war das der Grund, weshalb wir uns schon am ersten Tag der Vorschule zueinander hingezogen fühlten. Als unsere Eltern damals hastig den Rückzug aus der Fröhlichkeit des Klassenzimmers antraten, weinte ich, während sie ihrer Mutter lächelnd einen Handkuss zuwarf. Mit Tränenspuren auf den Wangen war ich Monica in
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