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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte
Autoren: Jo Nesbø
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die Beine, um den Rückstoß abzufangen. Das Telefon klingelt und klingelt. Eine Minuten und zwölf Sekunden. Der Diamantring blinkt auf, als Stine die Hand ein wenig hebt, als wolle sie jemandem zum Abschied zuwinken.
    Es ist exakt 15.22 Uhr und 22 Sekunden, als er abdrückt. Der Knall ist kurz und dumpf. Stines Stuhl wird nach hinten geworfen, während ihr Kopf wie bei einer kaputten Puppe auf dem Hals tanzt. Dann kippt der Stuhl nach hinten. Ein Schlag ist zu hören, als ihr Kopf auf der Kante des Schreibtisches aufschlägt, dann kann Harry sie nicht mehr sehen. Auch die Reklame für Nordeas neuen Rentensparplan, die an der Außenseite der Scheibe über dem Schalter klebt, hat plötzlich einen roten Hintergrund bekommen und ist nicht mehr zu erkennen. Er hört bloß das Klingeln des Telefons, wütend und eindringlich. Der Bankräuber schwingt sich über die Tür und rennt zu dem Rucksack in der Mitte des Raumes. Harry muss sich jetzt entscheiden. Der Bankräuber ergreift den Rucksack. Harry entschließt sich. Mit einem Ruck ist er aus dem Stuhl. Sechs lange Schritte. Dann ist er da. Und hebt den Hörer des Telefons ab.
    »Ja.«
    In der darauf folgenden Pause hört er das Geräusch der Polizeisirenen aus den Fernsehlautsprechern im Wohnzimmer, einen pakistanischen Hit aus der Nachbarwohnung und schwere Schritte draußen auf der Treppe, die auf Frau Madsen schließen lassen. Dann lacht es weich am anderen Ende. Ein Lachen aus einer fernen Vergangenheit. Nicht was die Zeit angeht, aber dennoch fern. Wie siebzig Prozent von Harrys Vergangenheit, die in unregelmäßigen Abständen als vages Gerücht oder wildeste Erfindung wie aus dem Nichts auftaucht. Aber diese Geschichte konnte er bestätigen.
    »Fährst du noch immer auf dieser Macho-Schiene, Harry?«
    »Anna?«
    »Aber hallo, du beeindruckst mich.«
    Harry spürte eine süße Wärme in seinem Inneren, fast wie Whisky. Fast. Im Spiegel sah er ein Bild, das er an die gegenüberliegende Wand geheftet hatte. Von ihm und Søs aus einem lange vergangenen Sommerurlaub in Hvitsten, als sie klein waren. Sie lächelten, wie Kinder lächeln, die noch immer glauben, dass ihnen nichts Schlimmes zustoßen kann.
     
    »Und was machst du so an einem Sonntagabend, Harry?«
     
    »Nun.« Harry hörte, wie seine eigene Stimme automatisch die ihre imitierte. Ein bisschen zu tief und zu zögerlich. Aber das war es nicht, was er wollte. Nicht jetzt. Er räusperte sich und fand eine etwas neutralere Klangfarbe. »Was wohl die meisten Menschen machen.«
    »Und das wäre?«
    »Videos gucken.«
     

 
     
     

    Kapitel 3 – House of Pain
     
    »Das Video angeguckt?«
    Der kaputte Bürostuhl schrie protestierend auf, als sich Polizeimeister Halvorsen nach hinten lehnte und seinen neun Jahre älteren Kollegen, Hauptkommissar Harry Hole, mit einem ungläubigen Ausdruck auf seinem jungen, unschuldigen Gesicht anstarrte.
    »Ja, natürlich«, sagte Harry und fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen über die dünne, schlaffe Haut unter seinen blutunterlaufenen Augen.
    »Das ganze Wochenende?«
    »Von Samstagvormittag bis Sonntagabend.«
    »Hattest du dann wenigstens Freitagabend ein bisschen Spaß?«, fragte Halvorsen.
    »Ja.« Harry zog eine blaue Mappe aus seiner Manteltasche und legte sie auf seinen Schreibtisch, der Kopf an Kopf mit dem von Halvorsen stand. »Ich habe mir die Verhörprotokolle durchgelesen.«
    Aus der anderen Manteltasche zog Harry eine graue Tüte mit French-Colonial-Kaffee. Er und Halvorsen teilten sich das vorletzte Büro der roten Zone in der sechsten Etage des Polizeipräsidiums von Oslo-Grønland. Vor zwei Monaten hatten sie gemeinsam eine Rancilio-Silvio-Espressomaschine gekauft, die einen Ehrenplatz auf dem Archivschrank bekommen hatte. Darüber hing das Foto einer jungen Frau, die ihre Beine auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihr sommersprossiges Gesicht schien eine Grimasse machen zu wollen, war dann aber von Lachen übermannt worden. Im Hintergrund sah man die gleiche Bürowand, an der jetzt das Bild hing.
    »Wusstest du, dass drei von vier Polizisten nicht einmal das Wort ›uninteressant‹ buchstabieren können?«, fragte Harry und hängte seinen Mantel an die Garderobe. »Entweder schreiben sie es ohne ›e‹ zwischen dem ›t‹ und dem ›r‹, oder …«
    »Interessant.«
    »Was hast du am Wochenende gemacht?«
    »Freitag habe ich in einem Auto vor der amerikanischen Botschafterwohnung gehockt. Wir hatten doch diese anonyme Autobombendrohung von irgendeinem
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