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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte
Autoren: Jo Nesbø
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Dieser ließ sich ins Schloss stecken, doch er konnte ihn nicht drehen.
    »Herrgott nochmal …«
    »Dreizehn. Der mit dem grünen Kleber, Helge!«
    Helge Klementsen starrte auf den Schlüsselbund, als hätte er ihn noch niemals zuvor gesehen.
    »Elf.«
    Der dritte Schlüssel passte. Helge Klementsen öffnete die Tür und drehte sich zu Stine und dem Räuber um.
    »Ich muss noch ein Schloss öffnen, um die Kassette herauszu…«
    »Neun!«, rief Stine.
    Ein Schluchzen entwich Klementsen, der jetzt wie ein Blinder mit den Fingern über die Zacken der Schlüssel fuhr, als könnten ihm diese wie Blindenschrift verraten, welcher Schlüssel der richtige war.
    »Sieben.«
    Harry lauschte angespannt. Noch keine Polizeisirenen. August Schultz fasste nach dem Griff der Ausgangstür.
    Metall klirrte, als der Schlüsselbund zu Boden fiel.
    »Fünf«, flüsterte Stine.
    Die Tür ging auf und der Lärm der Straße drang herein. In der Ferne glaubte Harry einen vertrauten, klagenden Ton zu hören. Er fiel ab und stieg gleich darauf wieder an. Polizeisirenen. Dann schloss sich die Tür wieder.
    »Zwei. Helge!«
    Harry schloss die Augen und zählte bis zwei.
    »Ich bin so weit!« Helge Klementsen hatte gerufen. Er hatte das zweite Schloss aufbekommen und kämpfte jetzt damit, die Kassetten herauszubekommen, die sich offensichtlich verkeilt hatten. »Ich muss nur erst das Geld herausbekommen. Ich …«
    In diesem Moment wurde er von einem schrillen Heulen unterbrochen. Harry blickte zum anderen Ende der Schalter hinüber, wo die junge Frau erschrocken den Bankräuber anstarrte, der noch immer reglos dastand und die Waffe auf Stines Nacken richtete. Die Frau blinzelte zweimal und nickte stumm in Richtung Kinderwagen, während sich das Gebrüll des Säuglings in die Höhe arbeitete.
    Helge Klementsen wäre beinahe nach hinten gestürzt, als sich die erste Kassette löste. Er zog den schwarzen Rucksack zu sich und im Laufe von sechs Sekunden waren alle Kassetten im Rucksack verstaut. Auf Kommando zog Klementsen den Reißverschluss zu und stellte sich an den Tisch. Alle Befehle wurden ihm von Stine gegeben, deren Stimme jetzt überraschend fest und ruhig klang.
    Eine Minute und drei Sekunden. Der Bankraub war vorüber. Das Geld lag in einem Rucksack in der Mitte der Bank. In wenigen Sekunden würde der erste Polizeiwagen ankommen. In vier Minuten würden die anderen Polizeiwagen die nächsten Fluchtwege abgeriegelt haben. Jede Faser im Körper des Räubers musste schreien, dass es höchste Zeit war, sich jetzt abzusetzen. Und dann geschah das, was Harry nicht verstand. Es hatte ganz einfach keinen Sinn. Statt abzuhauen drehte der Bankräuber Stines Stuhl herum, so dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Er beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Harry blinzelte. Er sollte irgendwann einmal sein Sehvermögen überprüfen lassen. Aber er sah, was er sah. Dass sie den gesichtslosen Bankräuber anstarrte, während ihr eigenes Gesicht eine langsame Veränderung erfuhr, je mehr ihr die Bedeutung der Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, bewusst wurden. Die schmalen, gepflegten Augenbrauen zeichneten zwei S-Bögen über die Augen, die ihr aus dem Kopf zu quellen schienen, ihre Oberlippe rollte sich nach oben, während sich ihre Mundwinkel zu einem grotesken Grinsen nach unten zogen. Das Kind hörte ebenso plötzlich zu weinen auf, wie es begonnen hatte. Harry holte tief Luft. Denn er wusste es. Das Ganze war wie ein Standbild, ein Meisterfoto. Zwei Menschen, gefangen in dem Augenblick, in dem der eine dem anderen sein Todesurteil mitgeteilt hat, das maskierte Gesicht zwei Handbreit vor dem unmaskierten. Der Henker und sein Opfer. Der Gewehrlauf zeigt auf die Halsgrube und ein kleines, goldenes Herz an einer dünnen Kette. Harry sieht ihren Puls nicht, spürt ihn aber dennoch unter ihrer dünnen Haut.
    Ein gedämpftes, klagendes Geräusch. Harry spitzt die Ohren. Doch das ist keine Polizeisirene, sondern bloß das Klingeln eines Telefons im Nebenraum.
    Der Bankräuber dreht sich um und sieht zur Überwachungskamera an der Decke hinter dem Schalter. Er streckt eine Hand hoch und zeigt seine fünf Finger in den schwarzen Handschuhen. Dann schließt er die Hand und streckt nur seinen Zeigefinger in die Höhe. Sechs Finger. Sechs Sekunden über der Zeit. Er dreht sich wieder zu Stine, ergreift das Gewehr mit beiden Händen, hält es an der Hüfte, hebt die Gewehrmündung, bis sie auf ihren Kopf zeigt, und spreizt
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