Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Autopilot. Genau wie ein Bankräuber, der sich vorher eingebläut hat, alle zu erschießen, die ihn aufzuhalten versuchen, sagte Aune. Je ängstlicher ein Bankräuber ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er sich von seinem Vorhaben abbringen lässt. Harry bewegte sich nicht. Er versuchte nur, die Augen des Bankräubers zu erkennen. Blau.
    Der Mann nahm seinen schwarzen Rucksack ab und warf ihn zwischen dem Geldautomaten und dem Mann mit den Zimmererhosen auf den Boden. Die Spitze des Kugelschreibers ruhte noch immer auf dem letzten Bogen der Acht. Der schwarz gekleidete Mann ging die sechs Schritte zu der niedrigen Schaltertür, setzte sich auf den Rand und schwang seine Beine hinüber. Dann stellte er sich hinter Stine, die still dasaß und den Blick nach vorne gerichtet hatte. Gut, dachte Harry. Sie hält sich an die Anweisungen und provoziert keine Reaktion, indem sie den Räuber anstarrt.
    Der Mann richtete den Lauf des Gewehres auf Stines Nacken, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
    Noch hatte sie keine Panik, doch Harry konnte erkennen, wie sich ihre Brust hob und senkte. Ihr dünner Körper schien unter der weißen und mit einem Mal engen Bluse nicht genug Luft zu bekommen. Fünfzehn Sekunden.
    Sie räusperte sich. Einmal. Zweimal. Dann brachten ihre Stimmbänder endlich Töne hervor:
    »Helge. Die Schlüssel für den Geldautomaten.« Die Stimme war leise und heiser, sie hatte nichts mehr mit der Stimme zu tun, die noch vor drei Minuten die beinahe gleichen Worte gesprochen hatte.
    Harry sah ihn nicht, wusste aber, dass Helge Klementsen die ersten Worte des Bankräubers gehört hatte und bereits in der Bürotür stand.
    »Schnell, sonst …« Ihre Stimme war kaum hörbar, und in der Pause, die folgte, war das Schleifen von August Schultz' Schuhsohlen auf dem Parkett das einzige, hörbare Geräusch wie ein paar Jazzbesen, die in einem unglaublich langsamen Shuffle über die Haut der Trommel geführt wurden.
    »… erschießt er mich.«
    Harry sah aus dem Fenster. Vermutlich stand irgendwo dort draußen ein Auto mit laufendem Motor, doch von dort, wo er stand, konnte er nichts sehen. Nur Autos und Menschen, die mehr oder weniger unbekümmert vorbeigingen.
    »Helge …« Ihre Stimme klang flehend.
    Los, Helge, dachte Harry. Harry wusste auch einiges über den alternden Filialleiter. Er wusste, dass er zwei Königspudel hatte, eine Frau und eine kürzlich erst sitzen gelassene schwangere Tochter, die zu Hause auf ihn warteten. Dass sie gepackt hatten und nur darauf warteten, in ihre Hütte in den Bergen zu fahren, sobald Helge Klementsen nach Hause kam. Dass Klementsen sich jetzt aber wie in einem Traum unter Wasser fühlte, in dem alle Bewegungen unendlich verlangsamt werden, so sehr man sich auch beeilte. Dann tauchte er in Harrys Blickfeld auf. Der Bankräuber hatte Stines Stuhl herumgedreht, so dass er hinter ihr stand, den Blick auf Helge Klementsen gerichtet. Wie ein ängstliches Kind, das ein Pferd füttern soll, stand Klementsen nach hinten gebeugt da, wobei er die Hand mit dem Schlüsselbund so weit wie nur möglich nach vorne streckte. Es waren vier Schlüssel daran. Der Bankräuber flüsterte Stine ins Ohr, während er die Waffe auf Klementsen richtete, der zwei unsichere Schritte nach hinten taumelte.
    Stine räusperte sich: »Er sagt, dass du den Geldautomaten öffnen und die neuen Scheine in den schwarzen Rucksack packen sollst.«
    Helge Klementsen starrte wie hypnotisiert auf das auf ihn gerichtete Gewehr.
    »Du hast fünfundzwanzig Sekunden. Dann schießt er. Auf mich, nicht dich.«
    Klementsens Mund öffnete und schloss sich, als wollte er etwas sagen.
    »Los, Helge«, rief Stine. Der Türöffner summte und Helge Klementsen trat in den Tresorraum.
    Dreißig Sekunden waren vergangen, seit der Bankräuber die Filiale betreten hatte. August Schultz hatte die Ausgangstür jetzt fast erreicht. Der Filialleiter kniete sich vor dem Geldautomaten hin und starrte auf den Schlüsselbund. Es waren vier Schlüssel daran.
    »Noch zwanzig Sekunden«, ertönte Stines Stimme.
    Die Polizeiwache von Majorstua, dachte Harry. Jetzt waren sie auf dem Weg zu den Autos. Acht Blöcke. Rushhour.
    Mit zitternden Fingern suchte Helge Klementsen einen Schlüssel aus und steckte ihn ins Schlüsselloch. Auf halbem Weg blieb er stecken. Helge Klementsen drückte fester.
    »Siebzehn.«
    »Aber …«, begann er.
    »Fünfzehn.«
    Helge Klementsen zog den Schlüssel wieder heraus und versuchte einen anderen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher