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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte
Autoren: Jo Nesbø
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drang aus dem einzigen Büroraum der Filiale, dessen Tür offen stand.
    »Wir haben Besuch, Helge!«
    Ein Mann mit Fliege und Lesebrille kam zum Vorschein.
    »Du sollst den Geldautomaten öffnen, Helge!«, sagte Stine.
    Helge Klementsen starrte dumpf auf die beiden Männer mit den Overalls, die jetzt beide auf der Innenseite der Schalter waren. Der Große sah nervös zur Eingangstür, während der Kleine den Filialleiter anstarrte.
    »Ja, ja, natürlich«, stammelte Klementsen, als erinnere er sich plötzlich an eine alte Abmachung, und brach in lautes, hektisches Lachen aus.
    Harry rührte sich nicht, nur seine Augen sogen jedes Detail von Bewegung und Mimik ein. Fünfundzwanzig Sekunden. Er blickte noch immer auf die Uhr über der Tür, doch aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie der Filialleiter den Geldautomaten von innen öffnete, zwei längliche Metallkassetten mit Geldscheinen herauszog und sie den zwei Männern übergab. Das Ganze lief schnell und leise ab. Fünfzig Sekunden.
    »Die sind für dich, Vater!« Der Kleine hatte zwei identische Metallkassetten aus dem Koffer gezogen, die er Helge Klementsen entgegenstreckte. Der Filialleiter schluckte, nickte und schob sie in den Geldautomaten.
    »Ein schönes Wochenende!«, sagte der Kleine, richtete sich auf und ergriff den Koffer. Anderthalb Minuten.
    »Nicht so schnell«, sagte Helge.
    Der Kleine erstarrte.
    Harry sog die Wangen ein und versuchte, sich zu konzentrieren.
    »Die Quittung …«, sagte Helge.
    Einen langen Augenblick starrten die beiden Männer auf den kleinen, grauhaarigen Filialleiter. Dann begann der Kleine zu lachen. Ein hohes, dünnes Lachen mit schrillem, hysterischem Oberton, als wäre er auf Speed. »Du glaubst doch nicht, dass wir ohne Unterschrift gegangen wären? Wer gibt schon zwei Millionen ab, ohne sich das bestätigen zu lassen!«
    »Nun«, sagte Helge Klementsen. »Einer von euch hätte das letzte Woche fast vergessen.«
    »Es sind zurzeit so viele Frischlinge auf den Geldtransportern«, sagte der Kleine, während er und Klementsen unterschrieben und gelbe und rosa Formulare austauschten.
    Harry wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ehe er wieder auf die Uhr blickte. Zwei Minuten und zehn Sekunden.
    Durch das Glas in der Tür konnte er den weißen Kastenwagen mit dem Emblem der Nordea-Bank wegfahren sehen.
    In der Bank wurden die Gespräche wieder aufgenommen.
    Harry brauchte nicht zu zählen, tat es aber dennoch. Sieben. Drei hinter den Schaltern und drei davor, wobei er das Baby und den Typ in den Zimmermannshosen mitgerechnet hatte, der soeben in die Bank gekommen und an den Tisch in der Mitte der Bank getreten war, um seine Kontonummer auf einen Einzahlungsschein zu schreiben, der, wie Harry erkannt hatte, von der Firma Saga Sonnenreisen stammte.
    »Wiedersehen«, sagte August Schultz und begann seine Füße in Richtung Ausgangstür zu schieben.
    Es war jetzt genau 15.21 Uhr und zehn Sekunden, und erst jetzt fing alles richtig an.
    Als sich die Tür öffnete, sah Harry Stine Grettes Kopf kurz nach oben wippen, ehe sie sich wieder auf die Papiere vor sich konzentrierte. Dann hob sie ihren Kopf wieder, dieses Mal langsamer. Harry blickte zur Eingangstür. Der Mann, der in die Bank gekommen war, hatte bereits den Reißverschluss seines Overalls geöffnet und ein schwarz-olivgrünes G3-Gewehr gezückt. Eine marineblaue Sturmhaube verdeckte mit Ausnahme der Augen sein ganzes Gesicht. Harry begann erneut von Null zu zählen.
    Wie bei einer Muppets-Puppe begann sich die Sturmhaube dort zu bewegen, wo sich der Mund befinden musste: »This is a robbery. Nobody moves.«
    Er hatte nicht laut gesprochen, doch wie nach einem donnernden Kanonenschlag waren alle Geräusche in der kleinen Bankfiliale verstummt. Harry blickte zu Stine. Durch das ferne Rauschen der Autos war das glatte Klicken geölter Waffenteile zu hören, als der Mann den Ladegriff betätigte. Ihre linke Schulter sank kaum merkbar nach unten.
    Mutiges Mädchen, dachte Harry. Oder einfach nur zu Tode erschrocken. Aune, der Psychologieprofessor an der Polizeischule, hatte gesagt, dass die Menschen zu denken aufhören und beinahe wie vorprogrammiert handeln, wenn die Angst nur groß genug ist. Die meisten Bankangestellten lösen den stillen Alarm wie im Schock aus, hatte Aune behauptet und seine Aussage damit belegt, dass sie sich hinterher bei den Befragungen nicht mehr erinnern konnten, ob sie den Alarm ausgelöst hatten oder nicht. Sie liefen auf
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