Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
KAPITEL 1

    Â»Kommt schnell! Vater und Mutter kämpfen gegeneinander!«
    Otori Takeo hörte die Stimme seiner Tochter, die in der Residenz von Inuyama ihre Schwestern herbeirief, so klar und deutlich wie das Geräuschgewirr im Schloss und in der dahinterliegenden Stadt. Doch er beachtete diese Geräusche genauso wenig wie das Lied des Nachtigallenbodens unter seinen Füßen und konzentrierte sich ganz auf seine Gegnerin: Kaede, seine Frau.
    Sie kämpften mit Holzstangen: Kaede war Linkshänderin und daher mit jeder Hand gleich stark. Takeo war zwar größer, aber seine rechte Hand war vor vielen Jahren durch einen Messerhieb verkrüppelt worden, weshalb er zwangsweise hatte lernen müssen, die linke zu gebrauchen. Und dies war nicht die einzige Verletzung, die ihn behinderte.
    Es war der letzte Tag im Jahr, bitterkalt, der Himmel von blassem Grau, die Wintersonne schwach. Im Winter übten sie oft so, denn es wärmte den Körper und ließ die Gelenke beweglich bleiben, und außerdem bewies Kaede ihren Töchtern gern, dass eine Frau genauso gut kämpfen konnte wie ein Mann.
    Die Mädchen kamen angerannt: Shigeko, die Älteste,würde im neuen Jahr fünfzehn werden, die zwei jüngeren dreizehn. Die Dielen sangen unter Shigekos Schritten, doch die Zwillinge gingen leichtfüßig in der Art des Stammes. Von frühester Kindheit an waren sie über den Nachtigallenboden gelaufen und hatten fast unbewusst gelernt, ihn nicht zum Singen zu bringen.
    Kaede hatte sich einen roten Seidenschal um das Gesicht geschlungen, so dass Takeo nur ihre Augen sehen konnte. Sie leuchteten, erfüllt von der Energie, die der Kampf freisetzte, und ihre Bewegungen waren kräftig und schnell. Es fiel schwer zu glauben, dass sie die Mutter dreier Kinder sein sollte, denn sie bewegte sich immer noch mit der Kraft und Geschmeidigkeit eines Mädchens. Als Kaede ihn angriff, spürte er deutlich sein Alter und seine körperlichen Schwächen. Die Wucht, mit der Kaede seine Stange traf, ließ seine Hand schmerzen.
    Â»Ich gebe auf«, sagte er.
    Â»Mutter hat gewonnen!«, krähten die Mädchen.
    Shigeko lief mit einem Handtuch zu ihrer Mutter. »Für die Siegerin«, sagte sie, verneigte sich und bot das Handtuch mit beiden Händen dar.
    Â»Wir können froh sein, dass Friede herrscht«, sagte Kaede lächelnd und wischte sich das Gesicht ab. »Euer Vater hat die Kunst der Diplomatie erlernt und muss nicht mehr um sein Leben kämpfen!«
    Â»Immerhin ist mir jetzt warm«, sagte Takeo und befahl einer der Wachen, die vom Garten aus zugeschaut hatten, mit einem Wink, die Stangen zu entfernen.
    Â»Wir möchten noch mit dir kämpfen, Vater!«, batMiki, die Zweitgeborene der Zwillinge. Sie ging zum Rand der Veranda und streckte der Wache die Hände hin. Der Mann achtete darauf, sie weder anzuschauen noch zu berühren, als er ihr die Stangen reichte.
    Takeo bemerkte seine Scheu. Selbst erwachsene Männer, abgehärtete Soldaten, hatten Angst vor den Zwillingen – ja sogar, dachte er betrübt, ihre eigene Mutter.
    Â»Ich würde gern sehen, was Shigeko gelernt hat«, sagte er. »Jede von euch beiden darf einmal gegen sie kämpfen.«
    Seit einigen Jahren verbrachte seine älteste Tochter den Großteil des Jahres in Terayama, wo sie unter der Aufsicht des alten Abtes Matsuda Shingen, einst Takeos Lehrer, den Weg des Houou studierte. Sie war am Tag zuvor in Inuyama eingetroffen, um das Neujahrsfest und ihre Volljährigkeit gemeinsam mit ihrer Familie zu feiern. Takeo beobachtete sie, als sie nach der Stange griff, die er benutzt hatte, damit Miki die leichtere bekam. Schlank und scheinbar zart, wie sie war, ähnelte sie stark ihrer Mutter, hatte aber ein ganz eigenes Wesen, war handfest, fröhlich und standhaft. Der Weg des Houou erforderte strengste Disziplin und ihre Lehrer ließen weder ihr Alter noch ihr Geschlecht gelten. Trotzdem hatte Shigeko Unterricht und Training und die langen Tage der Stille und Einsamkeit freudig und voller Hingabe auf sich genommen. Sie war aus freien Stücken nach Terayama gegangen, denn der Weg des Houou war ein Weg des Friedens, und von Kindesbeinen an hatte sie ihres Vaters Vision von einem friedvollen Land geteilt, in dem die Gewalt niemals die Oberhand gewinnen sollte.
    Ihre Art zu kämpfen unterschied sich sehr von jener, die man ihn gelehrt hatte, und er liebte es, ihr dabei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher