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Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules

Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules

Titel: Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
Autoren: Agatha Christie
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über die Frage, ob es grand mal oder petit mal sei, mehrere Tage diskutiert worden war. Dieser antike Herkules litt wahrscheinlich an grand mal – nein, Poirot schüttelte den Kopf –, wenn das die Vorstellung der Griechen von einem Helden war, also modernen Maßstäben würde sie nicht genügen. Die ganze klassische Mythologie schockierte ihn. Diese Götter und Göttinnen – sie hatten so viele falsche Namen wie ein moderner Verbrecher. Sie waren überhaupt ausgesprochene Verbrechertypen. Trunksucht, Ausschweifungen, Inzest, Vergewaltigungen, Raub, Mord und Rechtsverdrehung – genug um einen juge d’instruction lebenslänglich zu beschäftigen. Kein anständiges Familienleben, keine Ordnung, keine Methode, nicht einmal in ihren Verbrechen!
    »Herkules – du meine Güte«, sagte Poirot und stand ernüchtert auf. Er blickte wohlgefällig um sich. Ein ordentliches Zimmer mit ordentlichen modernen Möbeln – sogar mit einer guten modernen Skulptur, ein Kubus auf einem anderen Kubus und eine geometrische Figur aus Kupferdraht obendrauf.
    Und inmitten dieses blitzblanken, ordentlichen Zimmers er selbst. Er betrachtete sich im Spiegel. So also sah ein moderner Herkules aus – sehr verschieden von jener unerfreulichen Skizze einer keulenschwingenden nackten Figur mit hervorquellenden Muskeln. Stattdessen eine kleine gedrungene Gestalt mit einem Schnurrbart – einem Schnurrbart, wie Herkules ihn nie erträumt hätte, ein üppiger, dabei doch soignierter Schnurrbart.
    Dennoch war zwischen Hercule Poirot und dem Herkules der klassischen Sage eine Ähnlichkeit. Beide konnten als Wohltäter der Gesellschaft angesehen werden, in der sie lebten…
    Was hatte Dr. Burton gestern Abend beim Weggehen gesagt:
    »Ihre Arbeiten sind nicht die Arbeiten des Herkules…«
    Ah, da täuschte er sich, das alte Fossil. Die Arbeiten des Herkules müssten wieder erstehen – ein moderner Herkules. Ein findiger, amüsanter Einfall! In der Zeit, ehe er sich endgültig zur Ruhe setzte, würde er zwölf Fälle übernehmen; nicht mehr und nicht weniger. Und diese zwölf Fälle sollten mit besonderer Beziehung auf die zwölf Arbeiten des antiken Herkules ausgewählt werden. Ja, das wäre nicht nur amüsant, es wäre geradezu genial.
    Poirot nahm »Die Sagen des klassischen Altertums« zur Hand und vertiefte sich nochmals in die griechische Mythologie. Er hatte nicht die Absicht, seinem Vorbild sklavisch zu folgen. Es sollten keine Frauen vorkommen, kein Nessusgewand – die Arbeiten, nichts als die Arbeiten.
    Die erste Arbeit müsste demnach die Erlegung des Nemeischen Löwen sein.
    »Der Nemeische Löwe«, wiederholte er laut und ließ die Worte auf der Zunge zergehen.
    Natürlich erwartete er nicht, dass sich ein Fall mit einem Löwen aus Fleisch und Blut bieten würde. Es wäre ein unwahrscheinlicher Zufall, wenn die Direktion des Zoologischen Gartens plötzlich an ihn herantreten würde, um ihn mit der Lösung eines Problems zu betrauen, das einen echten Löwen betraf. Hier musste die Symbolik mitspielen.
    Der erste Fall müsste zum Beispiel eine berühmte Persönlichkeit betreffen, er müsste sensationell und von größter Bedeutung sein! Irgendein Meisterverbrecher – oder jemand, der für die Welt ein Löwe war. Ein berühmter Schriftsteller oder ein Politiker oder ein Maler – oder gar ein Mitglied des Königshauses – müsste die Hauptrolle spielen. Der Gedanke an eine Königliche Hoheit gefiel ihm…
    Er würde sich nicht beeilen. Er würde warten – warten auf jenen besonderen Fall, der die erste seiner selbst auferlegten herkulischen Arbeiten sein sollte.

Der Nemeische Löwe
     
    » I rgendetwas Interessantes heute Morgen, Miss Lemon?«, fragte Poirot, als er am folgenden Morgen das Zimmer betrat.
    Er vertraute Miss Lemon. Sie war phantasielos, aber sie hatte Instinkt. Wenn sie etwas erwähnenswert fand, war es meist auch beachtenswert. Sie war die geborene Sekretärin.
    »Nicht viel, Monsieur Poirot. Nur ein Brief, von dem ich mir denke, dass er Sie interessieren könnte. Ich habe ihn zuoberst auf den Stoß gelegt.«
    »Und was ist das für ein Brief?«, fragte er gespannt und machte einen Schritt nach vorn.
    »Der Gatte einer Dame, der ihr Pekinese gestohlen wurde, möchte gerne, dass Sie sich der Sache annehmen.« Poirot blieb mit einem Ruck stehen, den Fuß noch in der Luft. Er warf Miss Lemon einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie bemerkte es nicht, denn sie hatte begonnen zu tippen. Sie tippte mit der Geschwindigkeit und
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