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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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ich nicht, – versicherte ich. – Keine Sorge.
    Sie holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche und gab es mir.
    – Leg es irgendwo hin, – bat sie.
    Ich nahm ihr das Telefon aus der Hand. Darf ich? – fragte ich schnell und fand in den Kontakten die Nummer des Versehrten.
    Das Freizeichen ertönte. Einmal, zweimal, dreimal. Ich wollte schon auflegen, da war plötzlich ein seltsamer Laut zu hören, als schalte sich der Anrufbeantworter ein, und auf der anderen Seite erhob sich ein kaum hörbarer Luftzug, der nach und nach stärker wurde. Als wehe eine kalte Brise, die aus der Luft alle Geräusche und Stimmen herausblies, mit ihrem eisigen Atem alles erfüllte. Der Wind stürmte und heulte und rollte aus der Leere heran. Als wäre ich auf geheime Radiowellen gestoßen, deren sich die Piloten bedienten, wenn sie dieses verlassene Territorium überflogen. Nach und nach lösten sich unverständliche Stimmen aus dem Lärm und Geblase. Sie riefen sich im weiten Äther etwas zu, wandten sich aneinander und hatten Wichtiges mitzuteilen. Aber sosehr ich lauschte, sosehr ich versuchte, einzelne Worte zu verstehen, es gelang mir nicht. Das Jenseits war angefüllt mit einem entfernten, gleichmäßigen Rauschen. Nach und nach verschwanden die Stimmen, und eine schwere, unaussprechliche Stille trat ein. Ich schaltete das Telefon aus und legte es aufs Fensterbrett.
    – Was war? – fragte Olga.
    – Nichts, – antwortete ich. – Gar nichts.
    Sie lag noch eine Weile mit offenen Augen in der Dunkelheit, berührte meine Hand, seufzte leicht und summte etwas vor sich hin. Dann schlief sie ein und atmete gleichmäßig und abwesend.
    *
    Sjewa hatte nicht auf mich gewartet. Als ich rauskam, war er schon weg. Irgendwie musste ich nach Hause kommen. Ich überquerte die Straße, tauchte ins dunkle Apfelgezweig, nahm eine Abkürzung und befand mich plötzlich wieder an der Krankenhausmauer. Zum dritten Mal heute.
    Es hatte sich abgekühlt, Wolken zogen über den Himmel. In der Stadt war es still und leer, das Mondlicht hob die schweren Äste der Obstbäume und die vom Tau kalten Straßenschilder hervor. Ich lief und überlegte, was hinter den Gebäuden an meinem Weg lag. Ging am Krankenhaus vorbei, in dem mein Bruder einmal mit Blinddarm gelegen hatte. Erinnerte mich daran, wie wir Jüngeren, um ihn zu besuchen, über die Ziegelmauer geklettert waren. Passierte das weiße Gefängnis, wohin ich einmal mit meinem Bruder gegangen war, um mit den Wachleuten zu sprechen – mein Bruder hatte etwas zu regeln, ich kam einfach nur so mit. Ging am Kloster vorbei, wo früher eine Militäreinheit stationiert war und wo unser Alter gedient hatte. Hinter dem Kloster war meine Schule – ein Platz mit Reck, Linien auf dem Asphalt, geheime Schlupfwinkel mit Zigarettenkippen, Löcher im Zaun, durch die man kriechen konnte. Dahinter dunkelte das Hotel. Ich erinnerte mich, wie wir mit Frauen hergekommen waren – schon ganz erwachsen, ausgestattet mit Taschengeld, mit einer gewissen Straßenautorität und einer gewissen Vorstellung von der Liebe. Gegenüber die Telefonstation, in der man dann einen Videoladen eingerichtet hatte, den wir aber nicht nutzten, weil dort vor allem Karatefilme gezeigt wurden, die uns Erwachsene wenig interessierten. Weiter kam die Poliklinik, in der wir Alkohol kauften, und dahinter – der 24 -Stunden-Laden an der Ecke, in dem früher allen eingeschenkt wurde, die Durst hatten, unabhängig von Zustand, Alter und Konfession. Dann tauchte rechts für einen Moment der Feuerwehrturm auf, unter dem wir einmal eine Rauferei veranstaltet hatten. Dahinter das Revier, wohin wir danach alle gebracht wurden. Weiter begannen stille Innenhöfe, grasverwachsen und spinnwebverklebt, dunkle Gassen mit sorgfältig aufgebrochenem Asphalt, dann führte die Landstraße aus der Stadt hinaus, und als ich sie betrat, war es, als würde ich diese Straßen und Häuser wieder einmal für immer verlassen, diese Stadt, und darin Freunde, Verwandte und Geliebte zurücklassen. Eine seltsame Mischung aus Verlust und Besorgnis überkam mich, verging aber schnell wieder, und ein süßes Rhythmusgefühl verwies darauf, dass die Straße erst begann und dass man endlos lange in jede beliebige Richtung fahren konnte. Hinter den letzten Gebäuden leere Felder, weiter hinten durchschnitt der Deich die Dunkelheit. Hinter dem Deich blitzte im Mondlicht scharf die Oberfläche des Flusses. Hinter dem Fluss standen dunkel die Hügel, und auf den Hügeln lag die Nachtluft
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