Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
Vom Netzwerk:
die jetzt ihren kleinen Aufstieg erlebt. Die Banker-Meute, Bullen, Businessmeny, junge Anwälte und aussichtsreiche Politiker, Analytiker, Eigentümer, fuck, Kapitalisten – warum benehmen sie sich alle so, als hätte man sie auf Ferien hierhergeschickt? Als sollten sie schon morgen wieder wegfahren? Sie fahren doch gar nicht weg. Sie bleiben hier, und wir kaufen in denselben Geschäften ein. Warum sollten die schutzlos sein, Vater? Schwach? Sie haben Kiefer aus Stahl, mein Freund, sie werden dich zermalmen, wenn das gut für sie ist. Wo ist ihre Schutzlosigkeit?
    – Auch du beschreibst alles richtig, – antwortete er darauf, – vergisst aber eine Sache: Aggression entsteht durch Schutzlosigkeit. Und Schwäche.
    – Du meinst, sie werden wegen ihrer eigenen Schwäche zu Raubtieren?
    – Ja. Und wegen ihrer Schutzlosigkeit.
    – Und was tun?
    – Tu, was du getan hast, Harry, – antwortete der Priester. – Tu, was du getan hast. Ignoriere nicht die Lebenden. Und vergiss nicht die Toten.
    *
    Am Abend jenes Tages fuhren Sjewa und ich wieder zum Krankenhaus, um Olga abzuholen. Sie wusste schon vom Versehrten, war still und verweint, erlaubte, dass wir sie zum Auto trugen und auf die Rückbank legten. Sie wohnte wirklich ganz in der Nähe des Krankenhauses, nur ein paar Ecken weiter. Sjewa fuhr vorsichtig und versuchte, die Schlaglöcher zu meiden. Zuhause warteten zwei ihrer Tanten auf Olga. Sjewa und ich trugen sie in den weitläufigen, ganz mit Wein bewachsenen Hof und stiegen die Treppe zur Veranda eines kleinen Gebäudes hoch, trugen sie ins Wohnzimmer und legten sie vorsichtig auf die Couch. Die Tanten wuselten um uns herum, brachten den heißen Teekessel und kleine flauschige Kissen, verschwanden und kamen mit Mineralwasser wieder, dann zogen sie irgendwo eine schwarze magere Katze hervor und legten sie der Kranken in die Arme. Schließlich hielt es Olga nicht mehr aus und bat alle zu gehen. Mich aber bat sie zu bleiben.
     
    – Wann ist die Beerdigung? – fragte sie ruhig.
    – Übermorgen, – antwortete ich. – Am Samstag.
    – Komm mich abholen, ja?
    – Ja.
    – Und geh jetzt, okay? – bat sie. – Dann kommst du wieder.
    – Okay, – stimmte ich zu. – Ich warte, bis du eingeschlafen bist, dann gehe ich.
    – Einverstanden.
     
    Im Hof waren die Stimmen der Tanten zu hören, die sich über irgendetwas unterhielten. Olga lag da, mit einer warmen Wolldecke zugedeckt, und schaute aus dem Fenster, wo sich dichte fliederfarbene Dunkelheit ausbreitete.
    – Weißt du noch, was du von den Postkarten erzählt hast? – fragte sie plötzlich.
    – Was für Postkarten?
    – Ansichtskarten. Ganze Serien von Ansichtskarten aus verschiedenen Städten. Du hast gesagt, dass ihr die im Unterricht verwendet habt.
    – Ah, – erinnerte ich mich. – Postkarten aus Woroschilowgrad.
    – Ja, – bestätigte Olga. – Aus Woroschilowgrad.
    – Wie kommst du jetzt darauf?
    – Ich habe einen ganzen Stapel davon gefunden.
    – Echt?
    – Mhm. Habe lange überlegt, woher ich die habe. Dann ist es mir eingefallen. Meine Freundinnen und ich hatten deutsche Jungpioniere als Brieffreunde. Mir hat einer aus Dresden geschrieben. Er hat mich immer eingeladen, ihn zu besuchen, hat mir Postkarten geschickt. Ich ihm auch. Da habe ich ganze Serien gekauft und die mit den meisten Blumen ausgesucht, er sollte denken, dass es bei uns schön und fröhlich ist. Die anderen, die mit den Denkmälern, hab ich behalten. Und jetzt wiedergefunden. Einen ganzen Stapel. Komisch, – sagte sie, – so eine Stadt gibt es gar nicht mehr, und der Junge aus Dresden schreibt mir auch schon lange nicht mehr, es ist, als wäre das alles gar nicht mir passiert. Als wäre es ein anderes Leben, das Leben von anderen Leuten gewesen. Eine andere Stadt, ein anderes Land, ganz andere Menschen. Vielleicht sind diese Bilder meine Vergangenheit. Etwas, das man mir genommen hat und das man mich zwingen will zu vergessen. Aber ich vergesse nicht, weil es in Wirklichkeit ein Teil von mir ist. Vielleicht sogar der beste Teil, – fügte sie nach einigem Nachdenken hinzu.
     
    Sie berührte meine Hand, schaute aus dem Fenster und schwieg eine Weile.
    – Ich wusste, dass etwas passieren würde, – sagte sie plötzlich. – Ich hatte so ein Vorgefühl. Aber helfen konnte ich nicht.
    – Wie hättest du helfen können?
    – Weiß nicht, – sagte Olga. Weiß nicht. Und was ich jetzt tun soll, weiß ich auch nicht. Vergiss nicht, mich mitzunehmen, okay?
    – Vergess
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher