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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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hab es geschafft.
    – Aber trotzdem – was ist mit dem Beten?
    – Nichts, Beten hat nichts damit zu tun. Und überhaupt geht es gar nicht um die Kirche.
    – Sondern?
    – Darum, dass ich sie habe und sie mich. Wir gehören zusammen, verstehst du? – Er kramte das Handy des Versehrten aus der Sakkotasche, das er nun bei sich trug. Schaltete es aus und legte es beiseite, als wolle er mir was wirklich Wichtiges erzählen. – Weißt du, woran die meisten Junkies kaputtgehen? Dass sie allein sind. Na, das weißt du sicher selbst. Daher die ganzen Gruppentherapien, die ja manchmal auch funktionieren. Ich persönlich war aber der Gruppentherapie gegenüber immer skeptisch eingestellt. Und weißt du warum? Weil ich erwachsen bin und Verantwortung für meine Worte und Taten übernehme. Und als ich beschloss, clean zu werden, dachte ich sofort – bloß keine Gruppentherapie, bloß keine anonymen Alkoholiker. Dieses ganze Gift fließt in meinen Venen, wird von meinem Herzen gepumpt, und niemand wird mir seins leihen, nicht wahr? Deswegen habe ich diesem ganzen Chorgesang gleich eine Absage erteilt. Ich überzeugte mich davon, dass ich mit meinem Leben selber fertig werden kann und dass es unfair ist, jemand anderem die Schuld an den eigenen Fehlern zu geben. Romantisches Gewinsel, das das Problem nur verschlimmert. Aber, Harry, inzwischen weiß ich ganz sicher, dass es notwendig war, durch dieses Fegefeuer zu gehen, um die eigenen Kräfte und Möglichkeiten richtig einschätzen zu können. Und unsere Möglichkeiten, Harry, sind minimal. Und selbst das Wenige nutzen wir nicht richtig aus. Aber trotzdem. Plötzlich, Harry, war ich clean. Und dann habe ich verstanden, dass sich in Wirklichkeit gar nichts geändert hat, dass das Leben, Harry, ein zermürbender tagtäglicher Kampf mit deinen Abhängigkeiten ist. Und dass ich früher oder später wieder abstürze. Die Hauptsache ist also nicht das Cleanwerden, die Hauptsache ist, danach durchzuhalten. Und das, Harry, das geht dann nicht mehr ohne die Gruppentherapie in Gottes Namen. Weißt du, es ist wirklich ein großes Glück für mich, hierhergekommen zu sein. Für mich ist es ein Glück, verstehst du? Sie machen sich keine großen Gedanken darüber, ich aber weiß, dass ich es ohne sie nicht geschafft hätte.
    – Aha, also doch die heilende Kraft der Bibel?
    – Nein, du hast mich nicht verstanden. Was ich sagen will, ist, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als der Glaube. Ich rede von Dankbarkeit und Verantwortung. Ich bin durch Zufall zur Kirche gekommen, wusste nicht, wohin sonst. Jedenfalls nicht zurück zu meiner Schwester, damit sie mich wieder in die Klapse steckt. Hatte also nicht groß die Wahl. Aber mit der Kirche hat es auch nicht gleich geklappt. Kirche hin oder her, keiner außer dir selbst kann deine Probleme lösen. Kurz gesagt, ich spürte, dass ich dort nicht lange bleiben würde, dass mich die heiligen Väter früher oder später wegen meiner Ticks rausschmeißen würden. Sie wussten das auch, sagten es aber nicht laut. Dann schickten sie mich hierher. Der hiesige Priester ist irgendwo nach Kanada emigriert, und man brauchte jemanden, der hier bleiben würde. Ich war einverstanden. Die glaubten, dass ich bald von selbst wieder verschwinden würde. Und mit mir meine Probleme. Weißt du, als ich gekommen bin, haben wir uns zuerst in Tamaras Wohnung getroffen.
    – Wer? – fragte ich verständnislos.
    – Na, die Gemeinde. Es waren ganz wenige damals. Und weißt du, was passiert ist – sie sitzen da und schauen mich an. Und mir wird klar, dass ich kein Wort rausbringe – so beschissen fühle ich mich. Sie merken es und verstehen. Und fordern mich gar nicht auf, etwas zu sagen. Sie haben alles kapiert, Harry, alles gesehen und gewusst und nichts von mir verlangt. Diese ganze Gruppentherapie – das ist doch alles Bullshit, dort versucht jeder, seine eigene Haut zu retten, und jeder scheißt drauf, was mit den anderen passiert, wer bis zur nächsten Sitzung überlebt und wer abkratzt. Denn wenn du dabei bist, deine Haut zu retten, interessieren dich die anderen nicht. Und keine Therapie kann so wirken. Es ist unfair und gemein, und noch dazu fühlst du dich wie der letzte Arsch, der versucht, um jeden Preis davonzukommen. Hier aber war es ganz anders – ich sah, dass sie eigentlich nichts von mir brauchten, dass sie ganz gut auch ohne mich auskommen würden. Aber wo ich schon da war, wo es mich schon zu ihnen verschlagen hatte, würden sie mich nicht
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