Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
Vom Netzwerk:
hängen lassen. Das würden sie nicht tun, obwohl ich für sie ein zufälliger und unbekannter Schwanz von außerhalb war. Ich hab sofort geschnallt – wenn ich es hier nicht schaffe, dann steht es wirklich schlecht um mich. Dann wird mir kein Gebet mehr helfen.
    – Und sie, wussten sie alles?
    – Pascha wusste es. Ich hab es ihm selber erzählt. Gleich am ersten Abend. Ich habe sie gesehen und gedacht, dass ich nichts vor ihnen verbergen sollte, sonst würde es nur schlimmer für mich. Und Pascha war der Boss bei ihnen. Wie jetzt auch. Da habe ich ihm alles erzählt. Sagte, ich wolle ehrlich sein und dass ich kündigen würde, wenn sie keinen Junkie als Priester haben wollten. Und weiß du, was Pascha mir geantwortet hat? Er sagte, wenn alle Junkies hier hinschmeißen würden, würde die Arbeitslosenrate in der Stadt heftig steigen. Kurz gesagt, er hat mich gebeten, cool zu bleiben und meine Arbeit zu tun. Das heißt: mit ihnen Psalmen zu singen und ihre Kinder zu taufen. Und ich bin geblieben.
    – Klar.
    – Aber das ist noch nicht alles, – setzte der Priester fort. – Das ist noch nicht alles, Harry. Ich wurde doch rückfällig. Arbeitete ein halbes Jahr, dann ging es von vorne los. Ich hab sogar die Kirchenkasse geplündert, es war nicht viel, aber immerhin. Pascha hat mich da rausgezogen. Er verstand sofort, was mit mir los war, und ließ nicht zu, dass ich komplett abstürzte. Sperrte mich bei sich zu Hause ein und hielt mich dort fest, bis ich wieder zur Besinnung gekommen war. Verordnete mir Hausmittelchen. Verkündete allen, ich hätte Grippe. Und da sagte ich mir: Mann, du scheißt auf deine Gesundheit, klar. Und auf Karriere hast du auch keine Böcke, klar. Und die Gebote Christi gehen dir eigentlich, obwohl es den Dienstvorschriften widerspricht, auch am Arsch vorbei. Aber wenn du, Mann, nicht in der Hölle braten willst, auf kleiner Flamme wie ein Fertigprodukt in der Mikrowelle, dann klammere dich an diese komischen, nicht ganz adäquaten, aber sehr herzlichen und offenen Leute. Lass sie nicht allein. Bleib bei ihnen. Wenn du willst, kannst du ihnen Psalmen lesen oder ihre Kinder taufen. Gar nicht so wichtig, was genau du hier machen wirst. Hauptsache – bleib bei ihnen. Sie werden dich nicht hängen lassen, das gehört sich bei denen nicht. So etwa ist es also gewesen, – kam der Priester zu Ende und schaltete das Handy wieder ein. – Und Schura, – fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, – kannte ich kaum. Vielmehr wir haben nicht viel geredet. Mit deinem Bruder habe ich auch fast nichts geredet. Aber das ändert nichts – sie halten hier alle zusammen. Wir halten hier alle zusammen, verstehst du, Harry? Ich weiß, wovon ich rede. Es geht nicht um Kirche oder Drogen. Es geht um Verantwortung. Und Dankbarkeit. Wenn du das hast, dann gibt es eine Chance, dass du nicht als Vieh stirbst.
    – Alles richtig, – stimmte ich ihm zu. – Du sagst alles richtig. Aber sieh mal – der Versehrte wurde erschossen, mein Bruder ist abgehauen. Sie machen alles richtig, gut, aber schau, was los ist – sie haben sich hier verschanzt und glauben, sie könnten jeden zurückschlagen. Tatsächlich aber werden sie Mann für Mann abgeschossen und verdrängt. Bald sind sie alle weg.
    – Glaubst du?
    – Glaube ich.
    – Vielleicht sind sie bald weg, – stimmte mir der Priester zu. – Kann sein. Aber trotzdem – solange sie noch da sind, werden sie zusammenhalten, verstehst du? Ich habe in meinem Leben unterschiedliche Leute gesehen, Harry. Sehr unterschiedliche. Die meisten waren schwach und schutzlos. Die meisten haben ihre eigenen Leute verraten und verpfiffen. Ich denke, das kommt von der Schutzlosigkeit. Das Leben macht aus den Menschen Schwächlinge und Verräter, das sage ich dir jetzt als Priester. Deswegen, wenn man sie alle verdrängt, wie du sagst, wird man auch mich verdrängen. Weil auch ich mich verschanzt habe, Harry. Wir teilen unsere Verantwortung. Und unsere Dankbarkeit.
    Er holte wieder das Handy heraus und schaltete es ab. Die Nachmittagssonne rollte hinter die Krankenhausmauer und färbte die Fenster der Intensivstation rot ein.
    – Und außerdem zeige ich ihnen Zaubertricks, – sagte plötzlich der Priester.
    – Was? – fragte ich verständnislos.
    – Zaubertricks, – wiederholte der Priester. Wie im Zirkus. Als ich in der Behandlung war, gab es so eine Therapie, man brachte uns Zaubertricks bei. Man sagte, so sollten wir uns in die Kindheit zurückversetzen. Wir hatten da
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher