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Serum

Serum

Titel: Serum
Autoren: R. Scott Reiss
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    D
    er Vorsitzende starb, wie er gelebt hatte: einsam. Es geschah irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens an einem schwülheißen Mittwoch Ende Juli, während einer der schlimmsten Hitzewellen in der Geschichte New Yorks: Der 66Jahre alte L. Dwyer ging ins Badezimmer seines Hauses an der East 58th Street, schluckte einen Medikamentenmix aus Pillen seiner eigenen Firma, hinterließ eine Nachricht auf seinem massiven Schreibtisch und fiel unter Krämpfen in den ewigen Schlaf.
    So sah es jedenfalls Aguinaldo, sein philippinisches Faktotum, als er um vier Uhr eintraf, um Dwyer sein übliches Frühstück aus Steak und Eiern zuzubereiten.
    Aguinaldo hatte eine Ausbildung als Sanitäter und unternahm sofort Wiederbelebungsmaßnahmen, doch es war bereits viel zu spät. Anschließend rief er mich an.
    »Mr Dwyer hat immer gesagt, ich soll zuerst Sie anrufen, Mr Acela, wenn etwas passiert. Nicht die Polizei. Er meinte, es könnten wichtige Dokumente herumliegen, die niemanden etwas angehen. Er sagte …«
    Aguinaldo verhaspelte sich, daher unterbrach ich ihn und beruhigte ihn erst einmal. »War die Haustür abgeschlossen, als Sie kamen?«, fragte ich.
    »Ja, Mr Acela.«
    »Und die Tür zum Innenhof, die Fenster?«
    Aguinaldo brauchte ein paar Minuten, um alles zu kontrollieren. »Von innen versperrt, bis auf sein Schlafzimmerfenster. Das stand zwei Zentimeter weit offen, aber es liegt im zweiten Stock.«
    »Wurden Möbel verrückt, stehen Schubladen offen?«
    »Es sieht nicht nach einem Einbruch aus, Sir.«
    »Haben Sie irgendetwas berührt außer der Leiche?«
    »Nur seinen Abschiedsbrief. Aber das ergibt alles keinen Sinn. Haben Sie den Artikel im Wall Street Journal letzten Monat über seinen neuesten Coup gelesen? Darin nannten sie ihn Lucky Jim, den Glückspilz.«
    »Fassen Sie nichts mehr an. Sprechen Sie mit niemandem. In einer halben Stunde bin ich da.«
    Einen Moment lang blieb ich wie betäubt am Telefon sitzen. Ich war daheim, in Devil’s Bay in Brooklyn, dem Ort meiner Kindheit. Die Fenster im Erdgeschoss meines renovierten Hauses im traditionellen Cape-Cod-Stil standen offen, und man konnte die Brandung einen halben Block weit entfernt hören. Ich hatte noch nicht geschlafen, sondern die beunruhigenden Nachrichten aus Washington verfolgt. Der Präsident – ein guter Mann – war zurückgetreten, angeblich aus gesundheitlichen Gründen, und hatte die Zügel seinem Vize übergeben, einem für seine Nähe zur extremen Rechten bekannten Politiker.
    Es war nicht der erste spektakuläre Rücktritt dieses Sommers: Ein Richter am Obersten Gerichtshof, ein engagierter Redakteur der Washington Post und der Chef des FBI, mein ehemaliger Boss, hatten ebenfalls ihre Posten geräumt.
    Ich schaltete den Fernseher aus und dachte an den Zeitungsartikel, den Aguinaldo erwähnt hatte.
    Es ging dabei um einen Vertrag für Gegenmittel gegen chemische und biologische Waffen. Das Wall Street Journal nannte ihn einen der höchstdotierten pharmazeutischen Verträge der Geschichte.
    Langsam setzte der Schock ein. Vor ein paar Stunden hatte ich noch mit dem Vorsitzenden zusammengesessen, eine unserer regelmäßigen nächtlichen Besprechungen bei ihm zu Hause. Das war nichts Ungewöhnliches. Ich glaube, er brauchte einfach manchmal Gesellschaft. Er hatte erregt gewirkt und zu viel getrunken.
    Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, murmelte er irgendwann in sich hinein.
    Und ein paar Minuten darauf: Gott helfe uns allen – dem ganzen Land –, wenn ich recht habe.
    Er starrte mich an, und ich hatte das seltsame Gefühl, er konnte direkt in mein Herz hineinsehen. Dann nickte er. Ihnen kann ich trauen. Bitter fügte er hinzu: Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten, die ich für Freunde gehalten habe.
    Das war der eine Grund, warum ich mit eigenen Augen sehen musste, was geschehen war, bevor ich die Polizei rief. Der zweite waren eventuelle Betriebsgeheimnisse, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen durften. Ich duschte und rasierte mich rasch und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ein trauriger Tag lag vor mir. Ein Mann war tot, der mein Mentor gewesen war und der mit der Zeit ein Freund hätte werden können. Ich würde aufgebrachten Polizisten erklären müssen, warum ich und nicht sie als Erste am Schauplatz gewesen waren. Dann standen mir Gespräche mit Lenox’ stellvertretendem Aufsichtsratsvorsitzenden bevor – einem Mann, den ich nicht mochte – und auch mit der Presse, je nachdem, wie unsere
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