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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Autoren: Lynn Flewelling
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T EIL E INS
     
    Fragment eines im Ostturm des
    Orëska-Hauses entdeckten Dokuments.
     
    Ein alter Mann blickt mir aus dem Spiegel entgegen. Selbst unter den anderen Zauberern hier in Rhiminee gelte ich als Relikt aus vergessenen Zeiten.
    Mein neuer Lehrling, der kleine Nysander, kann sich nicht vorstellen, wie es war, ein freier Zauberer der Zweiten Orëska zu sein. Bei Nysanders Geburt hatte diese wunderschöne Stadt bereits zwei Jahrhunderte lang über ihrem tiefen Hafen bestanden. Dennoch wird sie für mich auf immer und ewig › die neue Hauptstadt ‹ sein.
    In den Tagen meiner Jugend wäre das weggegebene Kind einer Dirne ohne Ausbildung geblieben. Mit Glück hätte er als Wetterbeschwörer oder Wahrsager einer Dorfgemeinschaft geendet. Mit größerer Wahrscheinlichkeit hätte er versehentlich jemanden getötet und wäre als Hexer gesteinigt worden. Allein der Lichtträger weiß, wie viele von den Göttern berührte Kinder vor der Ankunft der Dritten Orëska dem Untergang geweiht wurden.
    Bevor diese Stadt errichtet wurde, bevor uns dieses wunderbare Haus des Wissens von seinem Gründer gestiftet wurde, lebten wir Zauberer der Zweiten Orëska auf unsere eigene Weise und nach unseren eigenen Gesetzen.
    Nun gehört uns als Gegenleistung für den Dienst an der Krone dieses Haus mit seinen Bibliotheken, seinen Archiven und seiner allgemeinen Geschichte. Ich bin der Einzige, der noch lebt und weiß, welch hohen Preis wir dafür bezahlt haben.
    Zwei Jahrhunderte. Drei oder vier Lebzeiten für die meisten Menschen; eine bloße Jahreszeit für uns, die wir mit der Gabe des Lichtträgers gesegnet sind. »Wir Zauberer sind ein eigener Menschenschlag, Arkoniel«, meinte meine Lehrmeisterin Iya zu mir, als ich kaum älter war, als es Nysander jetzt ist. »Wir gleichen Steinen in einem Flussbett, die beobachten, wie der Strom des Lebens an uns vorbeifließt.«
     
    Als ich heute Nacht an Nysanders Tür stand und beobachtete, wie der Bursche schlief, bildete ich mir ein, Iyas Geister neben mir zu spüren. Einen Augenblick lang schien es beinah, als betrachtete ich mein jüngeres Ich: einen schlichten, scheuen Sohn eines Adeligen, der eine Begabung für Tierzauber erkennen ließ. Als Iya als Gast im Anwesen meines Vaters geweilt hatte, erkannte sie die Magie in mir und offenbarte sie meiner Familie. Ich weinte an dem Tag, als ich mein Zuhause mit ihr verließ.
    Wie einfach es doch wäre, jene Tränen als Vorausahnung zu bezeichnen – ein Stilmittel, das Stückeschreiber dieser Tage so begeistert einsetzen. Aber ich habe trotz all der Prophezeiungen und Orakel, die mein Leben geformt haben, nie wirklich an das Schicksal geglaubt. Man hat immer die Wahl. Ich habe zu oft miterlebt, wie Men schen ihre Zukunft durch das Verhältnis der alltäglichen, kleinen Freundlichkeiten und Grausamkeiten schmiedeten.
    Ich hatte mich dafür entschieden, Iya zu begleiten.
    Später entschied ich mich, an die Visionen zu glauben, die das Orakel ihr und mir gewährte.
    Aus freien Stücken wirkte ich dabei mit, die Macht dieses guten, starken Landes wieder aufleben zu lassen, und kann somit rechtens behaupten, dazu beigetragen zu haben, dass sich die wunderschönen, weißen Türme von Rhiminee vor diesem blauen, westlichen Himmel erheben.
    Aber wovon träume ich in den wenigen Nächten, in denen ich tief und fest schlafe?
    Vom abgehackten Schrei eines Säuglings.
    Man könnte meinen, es sei nach so vielen Jahren einfacher zu ertragen, zumal jener notwendige Akt der Grausamkeit in der Lage war, den Verlauf der Geschichte zu ändern – wie ein Erdbeben den Verlauf eines Flusses. Doch jene Tat, jener Schrei, liegen dennoch all dem Guten zugrunde, das darauf folgte, wie ein Sandkorn im Herzen des wachsenden Perlmutts einer Perle.
    Ich allein trage die Erinnerung an den kurzen Aufschrei jenes Säuglings vor all den Jahren in mir.
    Ich allein weiß um den Schmutz im Herzen jener Perle.

K APITEL 1
     
    Iya nahm ihren Reisehut aus Stroh ab und fächelte sich damit Luft zu, während sich ihr Pferd den felsigen Pfad nach Afra hinaufmühte. Die Sonne stand mittäglich hoch und grell am wolkenlos blauen Himmel. Es war die erste Woche des Gorathin und somit viel zu früh für eine solche Hitze. Wie es schien, würde die Dürre einen weiteren Sommer andauern.
    Auf den Gipfeln hoch droben jedoch schimmerte nach wie vor Schnee. Gelegentlich blies ein Windstoß einen weißen Kristallschleier vor das klare Blau des Himmels und erzeugte das reizvolle Trugbild
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