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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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Karl Funkel ins Telefon.
    »Nein«, sagte sie.
    »Warst du lange aus?«
    Sie legte einfach auf und verließ die Wohnung. Nach dem Sport war sie gestern Abend mit Edith noch auf ein Weißbier gegangen, und es wurden fünf für jede von ihnen. Anschließend radelte sie ohne Licht, das kaputt war, nach Hause. Wenn Sonja etwas getrunken hatte, lehnte sie es strikt ab, mit dem Auto zu fahren.
     
    Im vierten Stock des Dezernats, das Karl Funkel als Kriminaloberrat leitete und dem vier Kommissariate angehörten – das K 111 (Mordkommission), das K 112 (Todesermittlung), das K 113 (Brandfahndung und Umweltdelikte) und das K 114 (Vermisste und unbekannte Tote) –, herrschte um diese Zeit, kurz vor acht Uhr morgens, noch wenig Betrieb; nach einer Nacht ohne größere Einsätze und Anrufe verwirrter oder betrunkener Bürger, die sich über etwas oder jemanden beschwerten und dann vergaßen, wieso, waren die Beamten der Nachtschicht gerade heimgegangen; die erste Konferenz, die Funkel einberufen hatte, fand in einer Stunde statt. Bis dahin wollte er sich in aller Ruhe mit den Kollegen der Vermisstenstelle über das weitere Vorgehen im Fall Raphael Vogel beraten. Was, so wie er die Lage im Moment einschätzte, darauf hinauslief, dass sie eine Einsatzhundertschaft anfordern und einen Hubschrauber bereitstellen mussten, um die Gegend nach dem Jungen abzusuchen. Wobei die Bezeichnung
Gegend
ein weites Feld war: Von der Wohnung seiner Eltern in Pasing, einem der westlichsten Stadtteile Münchens, konnte Raphael ebenso gut stadteinwärts gelaufen sein, möglicherweise in Richtung Ostfriedhof, wo sein Opa beerdigt wurde, oder – aus Gründen, die bisher niemand kannte – nach Süden, entlang der Würm in Richtung Gräfelfing, Planegg, Krailling. Aber warum? Und wen könnte er dort treffen?
    »Morgen, Herr Funkel!«
    Er drehte sich um. »Morgen, Vroni, ich hab gleich Arbeit für Sie, ein Tonbandprotokoll, geht ziemlich durcheinander, weil mich die Frau dauernd unterbrochen hat. Ihr neunjähriger Junge ist weggelaufen.«
    »Oje, das ist natürlich schlimm. Ich tipp das gleich runter, mach ich doch. Kaffee gibt’s auch schon, wie ich seh. Und riech!« Veronika Bautz, Funkels vierundvierzigjährige Sekretärin, warf ihm ihr unerschütterliches Lächeln zu, nahm die Kassette, die er ihr in die Hand drückte, und ging zur Spüle. Mit einem freundlichen Nicken und der Kaffeetasse in der Hand schloss sie die Tür zum Chefzimmer.
    Funkel sah wieder hinunter zum Hauptbahnhof. Ein Kommen und Gehen, Taxis warteten in langen Schlangen auf Kunden, die Obdachlosen hockten auf den Stufen, tranken Wein und Schnaps, hielten gelegentlich die Hand zum Betteln hoch, mühsam und zitternd, und wenn sie Pech hatten, setzte sich eine Taube drauf und pickte sie in die Finger.
    Seit elf Jahren leitete Karl Funkel das Dezernat. Seine Kollegen, von denen er einige seit langem kannte, bildeten ein zuverlässiges Team, auf das er sich auch in Zeiten schlechter Presse oder hausinterner Zwistigkeiten verlassen konnte. Was er an einer Organisation wie der Polizei schätzte, war der Teamgeist, eine Form familiärer Verbundenheit, der man sich sowohl im Dienst als auch im Privatleben verpflichtet fühlte, die ihren Wert besaß, auch wenn ständig behauptet wurde, es gebe solche Werte heute nicht mehr. Mit den Sorgen und Krisen seiner Leute setzte er sich so intensiv auseinander, als handle es sich um wichtige fahndungstechnische Angelegenheiten oder um Mitglieder seiner Familie. Die er nicht hatte. Er war solo, und seit der gescheiterten Verlobung mit Sonja Feyerabend hatte er kein Verhältnis mehr gehabt, das länger als zwei Monate dauerte.
    Nicht aus Überzeugung war Karl Funkel vor vierunddreißig Jahren zur Polizei gegangen, eher aus Faulheit, weil er nicht wusste, welchen Berufsweg er einschlagen sollte, und vor allem, weil er keinen Wehrdienst leisten wollte. Sich auf einem Kasernenhof herumkommandieren zu lassen, erschien ihm 1964, dem Jahr, als die Beatles fünf Titel hintereinander in der amerikanischen Hitparade hatten, wie der blanke Hohn. In seinem Dezernat kannte er keinen einzigen Kollegen, der aus Überzeugung Polizist geworden war; die meisten hatten nur eine vage Vorstellung davon gehabt, was sie erwartete, aber immerhin war es die einzige Vorstellung, die sie überhaupt von ihrer Zukunft hatten. Und alle erreichten sie schließlich den gehobenen Dienst und landeten im Dezernat 11 bei Karl Funkel, den sie als Autorität anerkannten, weil er
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