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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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Job!«
    »Guten Morgen, Karl«, sagte sie in den Hörer, ohne diesen in die Hand zu nehmen; sie neigte den Kopf und sprach schräg zum Wannenrand. Dann drehte sie den Hahn zu und steckte ihren linken Fuß ins Wasser. Es war zu warm, aber nicht heiß, also stieg sie hinein, stemmte die Arme auf den Rand und glitt langsam nach unten. Als sie ihre Beine ausstreckte, ragten ihre Füße und ein Großteil ihrer Unterschenkel aus dem Wasser. Sie nahm den Hörer in die Hand.
    »Seit wann ist der Junge verschwunden?«, fragte sie.
    »Das wissen wir noch nicht genau«, sagte Karl. Keiner von beiden schien sich noch daran zu erinnern, wie sie soeben miteinander umgesprungen waren. »Die Mutter sagt, sie wollte ihn wecken, aber da war er schon weg. Das war gegen halb sechs.«
    »So früh?« Sie lag mit geschlossenen Augen im dampfenden Wasser und konzentrierte sich auf jedes Wort.
    »Die Familie wohnt in Pasing, und die Beerdigung ist auf dem Ostfriedhof. Der Mann hat in Giesing gewohnt.«
    »Und der Vater?«
    »Der Vater ist das nächste Problem. Er wohnt nicht mehr zu Hause, jedenfalls nicht ständig, hat eine Freundin in der Stadt, irgendwo beim Hauptbahnhof.«
    »Die Mutter weiß also nicht, wo ihr Mann ist, wenn er nicht zu Hause ist.«
    »Sie weiß es nicht, auch wenn sie behauptet hat, ihr fällt gerade der Straßenname nicht ein, weil sie so nervös ist wegen ihrem verschwundenen Jungen.«
    »Du hast also nicht mit dem Vater gesprochen«, sagte Sonja und öffnete die Augen. Schweiß lief ihr über den Hals, und sie tauchte ihre Füße ins Wasser und stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Knie ab. »Er weiß also noch nichts davon.«
    »Nein«, sagte Karl, und man hörte etwas klappern. »Entschuldigung, mir ist der Kaffeelöffel runtergefallen. Der Mann weiß noch nicht, dass sein Sohn verschwunden ist, aber er wird zur Beerdigung erwartet.«
    »Wann findet die statt?«
    »Um acht. Ich möchte, dass du hinfährst und mit den Leuten redest«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee.
    »Vielleicht kommt der Junge von selber hin.«
    »Das hab ich der Mutter auch gesagt, aber sie glaubt es nicht. Er ist nämlich nicht zum ersten Mal ausgebüchst.«
    »Mit neun Jahren?«
    »Ja.«
    Das war ungewöhnlich; wenn sie sich richtig erinnerte, gab es in den zweieinhalb Jahren, seit sie in der Vermisstenstelle der Kriminalpolizei arbeitete, keinen einzigen Fall, bei dem ein Kind weggelaufen wäre, das jünger als zehn Jahre war; die meisten waren zwischen vierzehn und achtzehn, überwiegend Mädchen, die nach wenigen Tagen oder Wochen wieder auftauchten. Sonja kannte ein Mädchen, das schon fünfzehnmal ausgebüchst und wieder zurückgekommen war und dessen Eltern eine Menge Geld zum Psychologen trugen, ohne dass sie bei ihrer Erziehung Fortschritte machten.
    »Wie oft?«, fragte sie.
    »Die Mutter sagt, zweimal. Aber ich fürchte, das stimmt nicht. Sie hat panische Angst, dass ihrem Jungen was zugestoßen sein könnte.«
    »Warte.« Sie legte den Hörer auf den Rand der Wanne, nahm die Flasche mit Rosmarinöl, träufelte einige Tropfen ins Wasser, rührte mit beiden Händen um, lehnte sich noch einmal zurück, atmete den süßlichen Duft ein und schloss die Augen. Dann gab sie sich einen Ruck, stieg aus der Wanne, so dass das Wasser auf den grauen Steinboden platschte, riss das grüne Handtuch von der Stange und rubbelte sich ab.
    »Hallo! Hallo!«
    Unter dem rauen Handtuch hatte die Stimme nichts zu suchen.
    Seit Sonja ihre braunen Haare nicht nur radikal kurz geschnitten, sondern auch hellblond gefärbt hatte, begeisterte sie sich jedes Mal, wenn sie sie wusch, an der Vorstellung, sie greife in eine weiche Sonne, die auf ihrem Kopf saß und sie wärmte. Zur endgültigen Verblüffung ihrer Kollegen, besonders ihrer Kolleginnen, hatte sie sich in ihre stiftenkopfartige Frisur eine Art ungebleichten Scheitel ziehen lassen, der nicht in gerader Linie von vorne nach hinten verlief, sondern wie ein mäanderndes Rinnsal ihren Schädel überquerte, ein Überbleibsel der Naturfarbe Braun.
    Sie zog den Stöpsel aus der Wanne und nahm wieder den Telefonhörer in die Hand. Damit beendete sie ihr allmorgendliches Baderitual. Mit der Unterseite der linken Faust wischte sie einen Kreis in den beschlagenen Spiegel, etwa so groß wie ihr Gesicht, und betrachtete sich. Ihre grünen Augen, ihre hohe Stirn, auf der ein paar Wassertropfen glitzerten, die schmale Nase, deren Spitze zaghaft nach oben zeigte, was sie ein wenig ärgerte, ihre Lippen, deren
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