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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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der Nähe von Hamburg. Er hatte, seit er verheiratet war, moralische Bedenken, was seine Anwesenheit in München aus Sonjas Sicht weitgehend überflüssig machte, auch wenn sie sich nach wie vor über seine krakelig geschriebenen Briefe freute. Einem der beiden anderen Männer begegnete sie fast täglich bei der Arbeit, und da sich ihre gegenseitigen, tief greifenden Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Ehe inzwischen in Luft aufgelöst hatten, redeten sie viel und vertraut miteinander, gingen zwei bis dreimal im Monat zusammen essen und versicherten einander ihre immer währende Zuneigung. Der dritte Mann war in ihren Augen ein Kannibale, denn er hatte die Hälfte ihres Herzens gefressen. Dieser Mann rief seit Monaten nicht mehr an. Und das war auch besser so. Manchmal. Manchmal nicht. Dann hasste sie ihn, weil er nicht anrief, und dann ging sie erst recht nicht ans Telefon, wenn es klingelte.
    »Ja!«, fauchte sie in den Hörer, denn es hatte wieder geklingelt.
    »Was ist mit dir los, schwere Nacht gehabt?«, sagte eine Stimme, die sie nicht gleich erkannte.
    »Schrei nicht so!«
    Mit dem Telefon in der Hand ging sie ins Bad, an dessen Tür ein Schild hing, auf dem in blauer Kinderschrift geschrieben stand:
Badezimmer.
Das war ihre allmorgendliche Erinnerung daran, dass es sich bei dem Kabuff hinter der Tür um ein
Zimmer
handelte, und zwar um ein
Badezimmer,
auch wenn die Wanne zu kurz war und das Waschbecken zu mickrig und die Toilette zu nah an der Wand klebte; trotz aller Mängel – zudem war der Spiegel schlecht geschliffen und viel zu klein, um sich ordentlich schminken zu können, und das weiße Licht klatschte einem eine Maske ins Gesicht wie aus einem Horrorfilm – handelte es sich hier um
ihr Badezimmer,
und die Betonung lag auf dem kleinen Wörtchen
ihr,
weil diesen Raum niemand außer ihr okkupierte. Und das war vielleicht die größte Freiheit nach dem Auszug aus der hundertfünfundsechzig Quadratmeter großen Altbauwohnung, in der sie mit Karl zwei Jahre lang das Eheleben geprobt und ja gehaucht hatte, als er ihr bei Kerzenschein die entscheidende Frage stellte. Danach folgte jener Irlandurlaub, der alles beendete.
    Wenigstens hatte sie nun ein eigenes Badezimmer, und das, fand sie, stand ihr zu mit einundvierzig Jahren.
    »In deinem Alter darfst du nicht mehr so viel trinken«, sagte die Stimme, und Sonja legte auf. Sie wusste jetzt, wer am Apparat war. Sie ließ heißes Wasser in die Wanne laufen, während sie sich die Zähne putzte und darauf achtete, nicht aus Versehen in den Spiegel zu schauen. In wenigen Minuten würde er von Dampf beschlagen sein, und dann konnte sie gefahrlos den Kopf heben.
    Es klingelte zum dritten Mal, und sie wartete ab. Dann klemmte sie sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter und regulierte die Wassertemperatur. Sie drehte an den Hähnen, bis das Wasser eher heiß als lau war, aber nicht zu heiß, damit sie sich sofort hineinsetzen konnte, und es durfte auch nicht zu lau sein, denn sonst würde sie frieren, und das war das Schlimmste um diese Zeit.
    »Du musst sofort kommen«, sagte die Stimme.
    »Ja«, sagte Sonja.
    »Sofort!«
    Nie mehr würde ihr morgens um sieben irgendjemand sagen, was sie zu tun habe; dafür nahm sie ein Loch als Badezimmer in Kauf, ein Achtunddreißig-Quadratmeter-Appartement für neunhundert Mark in Milbertshofen und zwei Fenster, die auf einen betonierten Hof hinausgingen, wo die Skater am Sonntagmorgen gute Laune verbreiteten. Das war der Preis fürs Alleinsein, und in Momenten wie diesen wusste sie, dass er nicht zu hoch war.
    »Wir haben einen Vermissten, einen neunjährigen Jungen«, sagte Karl. Und weil er nichts weiter hörte als das Rauschen des Badewassers und ein leises Plätschern, fuhr er fort: »Die Mutter war bei uns. Ihr Schwiegervater wird heute beerdigt, und jetzt ist auch noch ihr Junge weg. Anscheinend ist er mit dem Tod seines Großvaters nicht zurechtgekommen. Hörst du mir zu?«
    Sonja drückte die Toilettenspülung, stellte das Telefon auf den Wannenrand, legte den Hörer daneben und zog ihr T-Shirt aus, das einzige Kleidungsstück, das sie nachts trug. Sie hängte es über die Handtuchstange, die sie eigenhändig in die Wand gedübelt hatte, und blickte zufrieden in den Spiegel: Er war vollkommen beschlagen.
    »Sonja, verdammt!« Die Stimme kam laut aus dem roten Hörer und wurde immer lauter. »Was ist denn mit dir los? Wir müssen diesen Jungen finden, und du badest in aller Ruhe. Komm hierher, das ist dein
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