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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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kein dröger Schreibtischtyp war, sondern als ehemaliger Leiter der Abteilung Verbrechensbekämpfung und aktiver Fahnder in der Vermisstenstelle und der Mordkommission Erfahrungen vor Ort gesammelt hatte und sich nicht zu schade dafür war, selbst an den Ermittlungen teilzunehmen und Berichte zu tippen.
    Im Polizeipräsidium hielten ihn einige seiner Kollegen für selbstgefällig und führungsschwach, versicherten ihm aber auf jeder Weihnachtsfeier das Gegenteil. Ihre heimlichen Witze darüber, dass er wie ein Seeräuber eine schwarze Klappe trug, weil er bei einem Einsatz ein Auge verloren hatte, kümmerten ihn schon lange nicht mehr.
    »Herein!«
    Es hatte geklopft. Er atmete tief durch und verscheuchte alle Gedanken, die nichts mit dem aktuellen Fall zu tun hatten.
    Zwei Männer standen in der Tür. Der eine war einundsechzig Jahre alt, eher bullig als kräftig, hatte graubraunes geschneckeltes Haar, ein breites Gesicht ohne Konturen, buschige Augenbrauen und gerötete Ohren; er trug eine speckige lederne Kniebundhose und ein rotweiß kariertes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, und man sah seine von grauen Haarbüscheln überwucherten Unterarme.
    Der andere Mann war fünfunddreißig und sah auf den ersten Blick wie ein überkandidelter Bankangestellter aus, Seidenhalstuch, aufgenähte Lederflicken an den Ärmeln, eine Dreihundert-Mark-Hose ohne die geringste Falte; er strahlte rundum Gesundheit aus und duftete so exquisit, dass das gesamte Dezernat davon zu profitieren schien; in seiner Nähe verboten es sich die Kollegen, schlapp im Stuhl zu hängen oder ihre Füße mit den ungeputzten Schuhen auf den Schreibtisch zu legen. Er hieß Volker Thon, war Hauptkommissar und leitete das Kommissariat 114, die Vermisstenstelle. Sein Kollege in der Bundhose, der jetzt neben ihm am Arbeitstisch in Funkels Büro Platz nahm, hieß Paul Weber, und er war schon Streife gelaufen, da hatten sich Thons Eltern noch nicht einmal gekannt.
    Der dreiundfünfzigjährige Karl Funkel war der direkte Vorgesetzte der beiden Hauptkommissare, und er war es auch gewesen, der den jungen Thon gegen den anfänglichen Widerstand vieler Kollegen als neuen Chef der Vermisstenstelle vorgeschlagen und beim Polizeipräsidenten durchgesetzt hatte.
    Wirkte Thon besonders auf manche Frauen wie ein eingebildeter Schnösel, so schätzte Funkel dessen Teamfähigkeit und uneitle Art zu kommunizieren und dessen Bestreben, jeden Mitarbeiter dazu zu bringen, offen, direkt und radikal seine Meinung zu sagen, ganz gleich, wie harsch sie auch sein mochte.
    »Der Bub ist zur Beerdigung seines Opas wieder da«, sagte Weber. Alle drei hatten weiße DIN -A4-Blätter vor sich liegen, auf denen sie sich Notizen machten.
    »Warum ist er weggelaufen?«, fragte Thon, ohne Weber anzusehen. Funkel saß an der Schmalseite des Tisches und hörte zu.
    »Weil ihn der Tod seines Opas geschockt hat«, sagte Weber. Und schrieb wie ein Journalist das Zitat auf und setzte in Klammern dazu:
Weber.
Es war ein Spleen.
    »Nein«, sagte Thon. Für einige Augenblicke herrschte Schweigen. Vom Vorzimmer drang das Klappern der Schreibmaschine herüber, die Veronika bei bestimmten Arbeiten dem Computer vorzog, dessen Eigenleben sie hasste.
    »Nein«, wiederholte Thon, »der ist nicht weg, weil der Opa weg ist, der ist weg, weil er mit niemand drüber sprechen kann.«
    …
weil er mit niemand drüber sprechen kann,
schrieb Weber auf seinen Zettel und in Klammern:
Thon!
Mit Ausrufezeichen.
    »Er ist schon zweimal getürmt, oder?« Thon drehte den Kopf zu Funkel, der nickte, aufstand und zu seinem Schreibtisch ging. Er beugte sich vor, um etwas aus der Schublade zu holen. »Und warum ist er schon zweimal getürmt?«
    Funkel fummelte in der Schublade herum. Mit seinem weinroten Sakko fegte er zwei Kugelschreiber und eine der beiden chinesischen Metallkugeln auf den Boden, die mit einem klirrenden Ploppen aufschlug und wie ein Stein liegen blieb.
    Schließlich fand er, was er suchte: seine Tabakdose und die Pfeife. Gelegentlich versteckte er beides, weil er sich mit dem Rauchen einschränken wollte; doch seine Verstecke aufzustöbern war für ihn ein Kinderspiel, sogar Veronika wusste Bescheid, sie grinste jedes Mal, wenn sie ihn dabei erwischte, wie er sein Rauchzeug, Verzicht im Blick und das Versprechen auf den Lippen, lange durchzuhalten, irgendwo im Schreibtisch oder im Aktenschrank deponierte.
    Er hob die glänzende Kugel und die Stifte auf, setzte sich zu seinen Kollegen ans
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