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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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ist nicht aufgetaucht, wir werden ihn suchen müssen …«
    »Logisch müssen S’ das!«
    »Thomas!«
    Kirsten rief nach ihm, und er drehte sich zu ihr um. Die Frau mit dem schwarzen Mantel, die von der Urnenhalle aus die Beerdigung beobachtet hatte, war inzwischen zum Grab gekommen.
    »Das ist meine Kollegin, Frau Feyerabend«, sagte Heuer.
    Ohne ein weiteres Wort ging Vogel zurück zu seiner Frau. Heuer folgte ihm.
    Sonja Feyerabend schloss ihr Studium der Trauergäste vorerst ab. Was die Mutter anbelangte, Kirsten Vogel, Ende zwanzig, sehr schlank, fast dürr, mit müden Augen und der nervösen Angewohnheit, sich alle paar Minuten die Innenseite der linken Hand zu kratzen, so machte sie auf Sonja den Eindruck einer Frau, die versuchte, mit aller Macht ihre Gefühle zu verbergen; ihr Gesicht war starr wie eine Maske, und während der gesamten Zeremonie hatte sie ihren Mann nicht einmal angesehen. Als Sonja sich vorhin auf Thomas Vogel konzentriert hatte, war ihr sofort die Aura von Kälte aufgefallen, die ihn umgab; er war um die dreißig, hatte halblanges, an den Spitzen ausgefranstes, dunkelblondes Haar und einen Schnauzbart. In seinen engen schwarzen Anzug gezwängt, wirkte er wie ein Gefangener, der an nichts anderes dachte als daran, sich zu befreien; in seinem Blick – die meiste Zeit starrte er zu Boden und dann, nachdem der Sarg in die Erde gelassen worden war, ins offene Grab – glaubte Sonja blanken Hass zu erkennen. Im Moment konnte niemand sagen, ob er oder auch die Mutter etwas mit Raphaels Verschwinden zu tun hatte, aber noch gab es keinen Hinweis darauf, dass es nicht so war.
    »Wir sind elf Jahre verheiratet gewesen, dann haben wir uns getrennt, nein, dann hat er sich von mir getrennt«, sagte Hanne Weck und putzte sich die Nase, holte tief Luft, blickte zum Grab und schwieg. Sonja hatte sich allen vorgestellt und ihre Namen erfahren. Nachdem sie Heuer ihre Telefonnummern gegeben hatten, verabschiedeten sich die vier Männer der Verkehrsbetriebe, weil sie zur Arbeit mussten. Die beiden Frauen, die nicht zur Familie gehörten, begannen leise ein Gespräch.
    Während Heuer mit einiger Mühe Thomas Vogel dazu brachte, sich wieder vom Grab zu entfernen, wartete Kirsten, die Arme vor dem Bauch verschränkt, mit zusammengepressten Lippen darauf, von der Polizistin befragt zu werden; sie verstand nicht, wieso sie nicht als Erste an die Reihe kam.
    »Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt mit Ihrem Exmann?«, fragte Sonja.
    »Ja«, sagte Hanne Weck und schaute wie entschuldigend ihre Schwiegertochter an. »Er hat mich angerufen, weil … weil er mit mir reden wollte über … über seinen Sohn und … über dich, Kirsten …«
    Kirsten kratzte sich mit zwei Fingern die Innenseite der linken Hand und hörte nicht mehr damit auf. Sie starrte Hanne an, die für einen Moment verunsichert Sonja Feyerabend ansah, ehe sie den Arm ausstreckte, um Kirsten zu berühren. Doch Kirsten zog flink ihre Hände zurück und verbarg sie unter den Achseln.
    »Kirsten …«
    Im Gesicht der jungen Frau war alles taub, kein Muskel, der sich regte, ein versteinerter Mund, starre Augen. Wie eine Puppe, die niemand je in den Arm genommen hat, dachte Sonja, selten war sie einem Menschen begegnet, der von Traurigkeit so zermürbt wurde wie diese Frau, die es nicht einmal schaffte, sich mit Tränen zu erleichtern oder wenigstens mit Worten.
    »Er hat sich Sorgen um euch gemacht«, sagte Hanne Weck, doch Kirsten schien sie nicht zu hören.
    »Hat er auch über seinen Enkel gesprochen?« Aus den Augenwinkeln heraus registrierte Sonja, dass sich ihr Kollege Notizen machte und es ihm anscheinend gelang, Informationen aus Vogel herauszuholen.
    »Er hat nur gesagt, dass Raphael immer gern zu ihm kommt, auch in letzter Zeit, wo er … wo er längere Zeit im Krankenhaus war wegen … wegen …«
    »Er war bei ihm im Krankenhaus?«, fragte Kirsten so leise, dass Sonja sie kaum verstand, weil im selben Moment eine Krähe hinter ihr krächzte.
    »Ja«, sagte Hanne schnell und sprach ihre Schwiegertochter direkt an, »ja, das hat Georg mir erzählt, Raphael hat ihn besucht und ihm Geschichten vorgelesen, vom Wunderzug Silbernase und so Sachen …«
    »Das hat er mir verheimlicht«, flüsterte Kirsten, und eine winzige Veränderung geschah mit ihrem Gesicht. Sonja bemerkte es, aber sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, was es war: Kirsten hatte gelächelt – ein zaghaftes, unkontrolliertes Lächeln, das sofort wieder
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