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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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verschwand.
    »Ich weiß, dass Georg dir das nicht erzählt hat, er wollte nicht, dass du – er hat zu Raphael gesagt, dass er ihn nicht besuchen soll, aber der Junge ist trotzdem gekommen, jeden Tag, nach der Schule …«
    »Ach deswegen …«, begann Kirsten, zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Versank in Grübeln, und Hanne zögerte weiterzusprechen.
    »Wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihrem Exmann gesprochen, Frau Weck?«, fragte Sonja. Sie wollte das Gespräch woanders fortsetzen, und sie hatte zwei gute Gründe dafür.
    »Ungefähr vor einem Monat«, sagte Hanne. »Ich hab ihn angerufen, er war zu Hause, nicht mehr im Krankenhaus, und er hat zu mir gesagt, ich brauch mir keine Sorgen zu machen, alles sei in Ordnung. Die Ärzte hätten ihn entlassen, und der Tumor wär geheilt. Das hat er zu mir gesagt, und ich hab ihm geglaubt. Er hörte sich gut an. Und vor drei Tagen rief mich Kirsten an und sagte, Georg ist gestorben, allein in seiner Wohnung, niemand war bei ihm …« Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht, und mechanisch wischte sie sie mit dem Taschentuch ab. »Die Polizei musste die Wohnung aufbrechen, stellen Sie sich das vor! Niemand hat einen Schlüssel.«
    »Wann hat Raphael vom Tod seines Großvaters erfahren?«, fragte Sonja, und Kirsten schreckte aus ihren Gedanken auf. »Haben Sie es ihm gesagt, Frau Vogel?«
    Kirsten nickte. Dann schüttelte sie den Kopf. Und nickte wieder. »Nein«, flüsterte sie, »ich … ich nicht … ich weiß nicht, wann – wo ist er denn? Haben Sie ihn denn noch nicht gefunden? Er wollte doch zur Beerdigung kommen …«
    »Frau Vogel?« Plötzlich hatte Sonja den Verdacht, dass Kirsten nicht nur wegen dem Tod ihres Schwiegervaters und dem Verschwinden ihres Sohnes wie ein Roboter wirkte. »Haben Sie Tabletten genommen, Frau Vogel?«
    Und als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, nickte Kirsten, griff in die Manteltasche, holte ein Plastikröhrchen hervor und hielt es in der flachen Hand hoch, so dass Sonja die Aufschrift lesen konnte:
Tramadol.
»Hab ich in Georgs Wohnung gefunden«, sagte sie leise, und ihre Pupillen zuckten nach rechts, wo mit dem Rücken zu ihr ihr Mann stand, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Geben Sie mir die Tabletten«, sagte Sonja, und weil Kirsten ihre Hand unbewegt in die Höhe hielt, griff sie nach dem Röhrchen und steckte es ein. Langsam, wie in Trance, ließ Kirsten den Arm sinken, ihr Blick verlor sich zwischen den Gräbern.
    »Sie waren also nicht die Erste, die Raphael gesagt hat, dass sein Großvater gestorben ist?«
    »Ich … ich weiß es nicht …«
    Sonja wandte sich wieder an Hanne. »Kennen Sie den Jungen?«
    »Natürlich, das heißt, bis zu seinem fünften Lebensjahr hab ich ihn gekannt, seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
    »Warum nicht?«
    »Vor vier Jahren haben wir – hat sich Georg von mir getrennt, und ich bin nach Berlin gegangen. Ich hab immer schon für die Stadt geschwärmt, und nach der Wende … Ich weiß nicht, wie Raphael heute aussieht, in Wirklichkeit. Georg hat mir vor einem halben Jahr …« Sie stockte und war nahe daran, wieder zu weinen, aber sie sprach schnell weiter. »Er hat mir ein Foto geschickt, das haben sie im Bahnhof gemacht, in einem Automaten, Georg und Raphael, der Junge schaut ihm über die Schulter und lacht so schön … Ich hab’s dabei, wollen Sie es sehen?«
    »Ja«, sagte Sonja.
    »Das hab ich alles gar nicht gewusst«, sagte Kirsten leise, und Sonja kam es vor, als sei ihr Gesicht noch grauer geworden, noch leerer. Vielleicht lag es auch am Tageslicht, das heute nicht erblühen wollte.
    »Hier bitte.« Hanne gab Sonja das kleine Foto: der Mann mit der spitzen Nase, dessen Gesicht sie auf dem Bild am Holzkreuz gesehen hatte, und ein Junge mit aufgerissenen Augen und einer Zahnlücke in der Mitte; er umarmt seinen Großvater von hinten, und beide erschrecken über das grelle Blitzlicht.
    »Darf ich das auch sehen?«, fragte Kirsten, und Hanne sagte sofort: »Natürlich!« Sonja hielt ihr das Foto hin, aber sie nahm es nicht. Beugte sich nur vor und schaute es an. »Raphael …«, murmelte sie.
    »Was is’n da los, ha?« Die Stimme zerriss Kirstens Andacht. Vogel hatte sich umgedreht und bemerkt, dass zwischen den Frauen irgendetwas passierte, und nun stürmte er herbei und griff nach dem Bild.
    Aber Sonja war schneller. »Lassen S’ mich das anschauen, los, aber schnell!« Wie Gummigeschosse kamen die Worte aus
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