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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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    Prolog
    E r war ein Baum im Regen, ein nackter Mann mit erhobenen Armen. Sein Blick hing an etwas, das einer verschrumpelten Wurzel glich. Sie wuchs aus einem Erdhügel und bewegte sich wie bei einem Tanz. Der Mann tat keinen Mucks. Ignorierte den Wind, der seinen Körper mit einer Gänsehaut überzog, die Tannennadeln im Morast und das Wasser, das ihm von den Haaren in die Ohren lief, was sich anfühlte, als krieche ein eisiger schleimiger Wurm in ihn hinein.
    Regungslos hielt der Mann die Arme hoch, drückte den Ballen seines rechten Fußes gegen den Oberschenkel des linken Beines, und sein Geschlecht kitzelte ihn an der Ferse. Seit einer Viertelstunde stand er so da, auf einem Bein, ruhig und kraftvoll, die Hände über dem Kopf wie zum Gebet gefaltet, und die tanzende Wurzel beobachtete ihn aus winzigen braunen Augen.
    Die Dunkelheit funkelte von den dünnen Strahlen des Regens, dessen monotones Plätschern das einzige Geräusch im Wald war. Es schien, als bringe der Regen sein Glitzern aus den Wolken mit, die schwarz und fern am Himmel hingen und den Mond begraben hatten.
    Umkränzt vom hellen Regen, ragte der Mann aus der Finsternis und rührte sich nicht. Seine Kleider lagen trocken und frisch gewaschen ein paar Meter entfernt in der Hütte; er verschwendete keinen Gedanken an sie, obwohl er fror und allmählich seine Glieder nicht mehr spürte. Jeden Tag und jede Nacht, zum immer gleichen Zeitpunkt, trat er nackt vor seine Hütte und begann mit seiner Übung. Das tat er, seit er hier lebte, seit neun Monaten, und er erschrak längst nicht mehr, wenn er plötzlich die Wurzel bemerkte, die ihn anstarrte und vor ihm auf und ab hüpfte.
    Nur beim allerersten Mal war er zusammengezuckt und hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren; er rutschte aus und fiel hin und hörte ein gackerndes Lachen; es kam aus dem Erdhügel, und er kniete sich hin und kniff die Augen zusammen, damit er besser sehen konnte. Was auf den ersten Blick wie totes Wurzelwerk aussah, entpuppte sich als springlebendig.
    Seither hatte er einen Freund, den einzigen in diesem vielstimmigen Dschungel voller Bäume und Tiere; fernab der Stadt und des Dorfes, das fünf Kilometer weit weg war, hatte er einen ständigen Begleiter mit einer roten Knollennase und trüben Augen im aufgedunsenen Gesicht, den er Asfur nannte. Nach dem ersten Schrecken, als ihm bewusst wurde, wie wenig er bisher von der Welt gesehen hatte, und einem flüchtigen Zorn, den er empfand, weil er sich in seiner Einsamkeit bedroht fühlte, lud er Asfur zu sich ein, und sie tranken Brüderschaft. Asfur war fast doppelt so alt wie er, seine Haut runzelig und sein Gebiss ein Trümmerfeld; doch dafür war er doppelt so lustig, ein Witzbold, wann immer er auftauchte.
    Als der Mann ihn jetzt ansah, ohne dass sich seine Pupillen bewegten, stutzte er und geriet beinah ins Wanken. Auf Asfurs Kopf thronte eine grüne flache Mütze mit einem zwölfzackigen Stern in der Mitte, der das Wappen einer Stadt enthielt. Diesen Stern erkannte der Mann sofort: das Symbol der deutschen Polizei. Mit seinen verkrümmten Fingern zog sich Asfur die Mütze ins Gesicht, hob die Hand und salutierte, knickte, wie der Mann vor ihm, ein Bein ab und drehte sich im Kreis. Der Mann hatte keine Ahnung, wann Asfur die Mütze, die ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, aufgesetzt hatte, denn bis zu diesem Augenblick war er wie immer kahlköpfig auf dem Erdhügel herumgehüpft und wollte Unruhe stiften; das war ihm noch nie gelungen. Bis heute. Beim Anblick der Mütze, die der Mann so gut kannte, weil er sie vor vielen Jahren selbst jeden Tag getragen hatte, und der Gestalt, deren Gesicht bis zur Hälfte unter der Kopfbedeckung verschwand, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Wie ein Donner kam das Lachen aus seinem Mund. Er stemmte die Hände in die Hüften und lachte so laut, dass er ein Echo entfachte. Nackt, nass und starr vor Kälte, stand er nun breitbeinig bis zu den Knöcheln in der lehmigen Erde und lachte sich die Lunge wund. Er wollte an sich halten, aber er konnte nicht. Als würde sich seine Stimme an diesem voluminösen Brüllen weiden, dröhnte sie durch die Nacht und ließ den Wald erschaudern. Asfur hüpfte weiter auf einem Bein im Kreis, und sein gedrungener Kopf schien sich immer tiefer in die Stoffhöhle hineinzuschrauben.
    Endlich hörte der Mann auf zu lachen.
    Schlagartig war es still, verstummte das Echo, sogar der Regen fiel leiser. Der Mann ließ die Arme sinken, sein Blick
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