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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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Aussichtspunkten im Geäst, wo ihr Krächzen die Schritte der anderen schwarzen Wesen begleitete, die mit gebeugtem Kopf hierher kamen, um zu weinen.
    Zum zweiten Mal drückte der Pfarrer ihre Hand, und wieder schaffte Hanne Weck es nicht, sich die Tränen abzuwischen. Sie blinzelte ihn an, er nickte und hielt ihre Hand mit beiden Händen fest, und sie roch den Weihrauch, der um ihn war, und hörte ein Krächzen, das von weit her kam. Die beiden Ministranten, von denen der eine das Weihrauchfass schwenkte, aus dem kein Rauch mehr entwich, warteten mit ernster Miene darauf, dass der Pfarrer sich in Bewegung setzte.
    »Danke«, flüsterte Hanne Weck, die Exfrau des Toten, und stellte überrascht fest, dass der Priester ihre Hand losgelassen hatte und den zwei Buben einen Blick zuwarf, was bedeutete, dass diese Zeremonie beendet war und sie sich auf den Weg machen mussten in die Sakristei, weil in zehn Minuten die nächste Beerdigung anfing.
    Hanne hörte das Knirschen von Schritten. Als sie aufschaute, sah sie eine Frau in einem schwarzen Mantel, die in der Nähe der Urnenhalle stand und sie beobachtete.
    »Wer ist das?«, fragte Kirsten, die Schwiegertochter des Toten, mit zittriger Stimme. Hanne schüttelte den Kopf. »Die war von Anfang an da, und da drüben steht ein Mann, der dauernd herschaut.«
    Hanne drehte sich langsam um und bemerkte hinter einer Hecke einen Mann, von dem nur der Kopf zu sehen war. Er hatte einen dicken, dunkelgrünen Schal um den Hals geschlungen, Kinn und Mund waren verdeckt. Regungslos starrte er herüber.
    Thomas Vogel, der Sohn des Toten, tauchte einen Latschenzweig in das mit Weihwasser gefüllte Glas, das seine Frau mitgebracht hatte, und besprenkelte damit das offene Grab mit den vier Kränzen und dem roten und weißen Rosenbukett. Dann reichte er den Zweig einem der fünf Arbeitskollegen von Georg Vogel, Straßenbahnfahrern, die graue Mäntel trugen und im Namen der Verkehrsbetriebe einen Kranz niedergelegt hatten. Außer der Familie, Kirsten und Thomas Vogel und Hanne Weck, nahmen zwei Frauen an der Beerdigung teil, die die übrigen nicht kannten und an deren Namen sie sich nicht erinnerten, obwohl die beiden sich vorgestellt hatten.
    Es war ein schlichtes Grab mit einem Holzkreuz, an dem ein Schwarzweißbild von Georg Vogel hing: ein unscheinbares Gesicht, dessen hervorstechendstes Merkmal eine lange spitze Nase war; über das Foto fiel eine schwarze Nylonschleife.
    Die Zeremonie hatte fünfzehn Minuten gedauert. Bald würden die Friedhofsarbeiter das Grab zuschaufeln.
    Der Wind fegte den Himmel grau.
    »Lieber Gott, mach, dass er zurückkommt!«, flüsterte Kirsten, den Kopf im Nacken und die Hände gefaltet.
    »Dem hau ich jetzt eine in die Fresse!«, sagte Vogel, knöpfte sein schwarzes Jackett auf, das ihm ebenso wie die Hose zu eng war, lockerte seine schmale schwarze Lederkrawatte, und bevor seine Frau noch aus ihrem Gebet hochschreckte und ihn zurückhalten konnte, stürzte er auf den Mann hinter der Hecke zu. Kaum hatte er sich ihm bis auf zwei Meter genähert, da riss der Mann einen Arm hoch. Vogel blieb so ruckartig stehen, dass der Kies unter seinen Schuhen aufspritzte. »Was gibt’s ’n da zum Glotzen, ha?«, stieß Vogel hervor, und eine grüne Plastikkarte versperrte ihm die Sicht auf die Augen des Mannes, der einen Kopf kleiner war als er. »Sind Sie taub oder was, ha?« Dann betrachtete er die Karte, die ihm der andere vor die Nase hielt, und las:
Kriminalpolizei,
und darunter neben einem Passfoto den Namen:
Martin Heuer.
»Polizist? Ham Sie unseren Buben gefunden? Wo isser?«
    Martin Heuer steckte seinen Ausweis ein und zog den Schal vom Mund. Er trug eine türkisfarbene Bomberjacke und schwarze englische Schuhe, schweres Leder, blitzsauber. Die dunkelbraunen Haare bildeten ein zerzaustes Nest auf seinem Kopf, und dicke Tränensäcke hingen unter seinen Augen. In seinem Gesicht gab es keine Farbe, abgesehen von der eigentümlichen Tönung seiner Knollennase. Obwohl er erst achtunddreißig war, wirkte Martin Heuer wie weit über vierzig, ein Mann, den die Arbeit zermürbte und noch mehr seine Rastlosigkeit und tiefe innere Unruhe, die ihn an freien Tagen durch Bars und Billardsalons trieb.
    »Mein herzliches Beileid«, sagte er jetzt und behielt die Hände in den Jackentaschen.
    »Ham Sie unsern Jungen oder was?«
    »Nein.«
    »Was wollen Sie dann hier?«
    »Ich will mit Ihnen sprechen, Herr Vogel.«
    »Mein Vater ist gerade beerdigt worden …«
    »Aber Ihr Sohn
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