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Und ewig währt die Hölle (German Edition)

Und ewig währt die Hölle (German Edition)

Titel: Und ewig währt die Hölle (German Edition)
Autoren: Kjetil Try
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    Prolog
    Ihr Blick wanderte vom schwarzen Bildschirm zum Wecker auf der Fensterbank. 19.01 Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit sie ihn gesehen hatte. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Hand zitterte immer noch. Sie saß auf dem einzigen bequemen Sessel in dem kleinen Zimmer und starrte wieder auf den Flachbildschirm, der ein wenig schief an der weißen Rigipswand hing. Schwaches Rauschen aus der Wasserleitung in der Küche mischte sich mit dem Verkehrslärm drei Etagen unter ihr.
    Sie stand auf und ging zum Fenster. Es hatte angefangen zu regnen. Ein Verkehrspolizist hatte sich am 7-Eleven untergestellt, er fröstelte in seiner dünnen Uniform. Für einen Moment dachte sie daran, zu ihm hinunterzulaufen, aber im selben Augenblick stoppte ein weißer Kleinwagen vor dem Laden, und der Mann stieg ein. Sie blickte dem Auto nach, bis es an der Urtegata um die Ecke bog und verschwand.
    Nadija sah wieder zur Uhr. Vierundzwanzig Minuten. Sie griff sich an den Hals, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Auf dem Wohnzimmertisch lag ihr schwarzes iPhone. Das Einzige, das entfernt an Luxus erinnerte. Es war immer noch warm. Sie wählte die Nummer der Auskunft.
    «Können Sie mich mit der Polizei verbinden?»
    «In Oslo?»
    «Äh … ja, bitte.»
    Die Sekunden erschienen ihr unendlich lang. Ihr kamen Zweifel.
    «Polizei.»
    «Ich möchte melden, dass … Ich habe gesehen …» Ihre Stimme zitterte. «Ich habe gerade …»
    Im selben Moment ging die Zimmertür auf.
    «Ist das Papa?»
    «Nein, es ist niemand.»
    Sie versuchte zu lächeln, drückte das Gespräch weg und ließ das Handy in der Tasche ihrer dunkelblauen Windjacke verschwinden.
    Nora legte den Kopf schräg und musterte sie.
    «Gehst du noch weg?»
    Nadija räusperte sich. Schluckte.
    «Nein, ich bin nur noch nicht dazu gekommen, die Jacke auszuziehen.»
    Nora zuckte mit den Schultern.
    «Ich geh kurz zu Erna. Wir wollen für die Mathearbeit morgen lernen.»
    «Zu Erna, wie schön.»
    Für einen Moment wurde ihr warm ums Herz. Ein Gefühl, das sie oft hatte, wenn Nora mit anderen Kindern zusammen war. Das war noch nicht lange so. Die ersten Jahre in der Schule hatte sie es nicht leicht gehabt. Nora war eine Außenseiterin gewesen. Sie wurde von den Klassenkameradinnen nicht zu Geburtstagspartys eingeladen, kam stets allein aus der Schule heim und zog sich immer mehr zurück. Sie weinte nie und beklagte sich auch nicht, aber wenn Nadija sie fragte, wich sie aus und antwortete nur in halben Sätzen. Kurz nach der Scheidung war es besonders schlimm gewesen. Nora war mit zerrissenem Anorak und kaputter Brotdose nach Hause gekommen. Nadija hatte mit den Tränen gekämpft, als sie die geballten kleinen Fäuste sah, aber ihre Tochter wollte nicht erzählen, was passiert war. Die Lehrerin wusste auch von nichts. Ihrer Meinung nach war Nora eine gute und fleißige Schülerin. Vielleicht ein bisschen still, ein Kind, das gern für sich blieb, wie sie es nannte. Nadija glaubte ganz und gar nicht, dass Nora gern für sich bleiben wollte. Im Kindergarten hatte sie immer fröhlich mit den anderen Kindern gespielt. Deshalb hatte sie bei der Møllergata-Schule angefragt, ob ein Schulwechsel möglich sei, doch als alles für den Wechsel vorbereitet war, hatte sich das Blatt gewendet – durch Erna, die im Nachbaraufgang wohnte und mit ihren hochverschuldeten Eltern aus Island hierhergezogen war. Gleich am ersten Tag war sie Noras beste Freundin geworden. Dem Himmel sei Dank, dass es Erna gab.
    Nadija betrachtete ihre zehnjährige Tochter und dachte ein wenig wehmütig, dass sie ihrem Vater unglaublich ähnlich sah. Nur das dicke dunkle Haar und den breiten, entschlossenen Mund hatte sie von ihr.
    «Vor acht bist du wieder hier», sagte sie.
    Nadija umarmte den schmächtigen Körper, presste ihre Nase in Noras Nacken und spürte die Wärme und den Duft ihrer Haut.
    «Pass auf dich auf», murmelte sie.
    Nora befreite sich aus ihrer Umklammerung.
    «Ich geh doch bloß zu Erna.»
    Die Wohnungstür schlug hinter ihr zu, und Nadija hörte, wie sie mit schnellen Schritten die Treppe hinunterging. Sie hakte die Sicherheitskette ein und setzte sich aufs Sofa unter dem Fenster. Der Zipfel eines hellblauen Lakens lugte an der Armlehne hervor. Sie stopfte ihn zerstreut wieder zwischen die Polster und griff nach ihrem Handy. Gerade als sie die Nummer der Auskunft wählen wollte, klingelte es an der Tür. Einen Augenblick lang saß sie wie
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