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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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drei- oder viermal gesehen, und niemals war er in der Lage, ihn von der Tag für Tag in die Welt gesetzten unpersönlichen Masse von Babies zu unterscheiden. Daniel war gerade zwei Wochen alt, als er ihn zum ersten Mal erblickte. Ich kann mich lebhaft an den Tag erinnern: ein sengendheißer Sonntag Ende Juni, Hitzewellenwetter, die Landluft grau vor Feuchtigkeit. Mein Vater fuhr mit seinem Auto vor, sah meine Frau das Baby zum Schlafen in den Kinderwagen legen und kam her, um hallo zu sagen. Er stieß seinen Kopf für eine Zehntelsekunde in den Kinderwagen, richtete sich wieder auf und sagte zu ihr: «Ein schönes Baby. Na dann viel Glück», worauf er ins Haus schritt. Ebenso gut hätte er über das Baby irgendeines Fremden in der Schlange im Supermarkt sprechen können. Für den Rest seines Besuchs damals würdigte er Daniel keines Blickes mehr.

    All dies lediglich als Beispiel.
    Unmöglich, in die Einsamkeit eines anderen einzudringen, das wird mir jetzt klar. Falls wir einen Menschen, wenn auch nur in Maßen, überhaupt jemals richtig kennenlernen können, dann allenfalls insoweit, als er bereit ist, sich zu offenbaren. Jemand mag sagen: Mir ist kalt. Oder aber er sagt gar nichts, und wir sehen ihn zittern. In jedem Fall wissen wir, dass ihm kalt ist. Was aber, wenn einer nichts sagt und auch nicht zittert? Wo alles verhärtet ist, wo alles hermetisch und ausweichend ist, kann man nur noch beobachten. Doch ob man aus dem Beobachteten schlau wird, ist eine ganz andere Sache.
    Ich möchte keinerlei Mutmaßungen anstellen.
    Er hat nie von sich erzählt, schien im Grunde gar nicht zu wissen, dass es da irgendetwas zu erzählen gab . Als hätte sein Innenleben sich sogar ihm selbst entzogen.
    Er konnte nicht darüber sprechen, und deshalb ging er schweigend darüber hinweg.
    Aber wenn es nichts als Schweigen gibt, ist es dann nicht anmaßend von mir, zu sprechen? Andererseits: Hätte es irgend etwas über dieses Schweigen hinaus gegeben, würde ich dann überhaupt das Bedürfnis zu sprechen gehabt haben?
    Meine Wahlmöglichkeiten sind begrenzt. Ich kann stumm bleiben, oder ich kann von Dingen sprechen, die nicht zu verifizieren sind. Zum allermindesten will ich die Tatsachen festhalten, sie so aufrichtig wie möglich darlegen und sie sagen lassen, was immer sie zu sagen haben. Doch selbst die Tatsachen erzählen nicht immer die Wahrheit.
    Er war nach außen hin so unerbittlich neutral, sein Verhalten war so wenig vorhersehbar, dass alles, was er tat, überraschend kam. Man konnte gar nicht glauben, dass es einen solchen Menschen gab – der keine Gefühle hatte, der so wenig von anderen verlangte. Und wenn es einen solchen Menschen nicht gab, dann bedeutet das, dass da ein anderer war, ein Mensch, der sich in dem verbarg, den es gar nicht gab; und demnach geht es um das Kunststück, ihn zu finden. Vorausgesetzt, dass er dort zu finden ist.
    Gleich von Anfang an zu erkennen, dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist.

    Früheste Erinnerung: seine Abwesenheit. In den ersten fünf Jahren meines Lebens ging er frühmorgens, wenn ich noch schlief, zur Arbeit und kam erst wieder nach Hause, wenn ich längst im Bett lag. Ich war der Sohn meiner Mutter und lebte ganz in ihrer Sphäre. Ich war ein kleiner Mond, der ihre gigantische Erde umkreiste, ein Stäubchen in ihrem Gravitationsfeld, und ich beherrschte die Gezeiten, das Wetter und die Kräfte des Gefühls. Von ihm bekam sie ständig zu hören: Mach nicht so viele Umstände, du verdirbst den Jungen. Aber ich war ein wenig kränklich, und dies benutzte sie als Vorwand, mich zu verhätscheln. Wir verbrachten viel Zeit miteinander; sie in ihrer Einsamkeit und ich mit meinen Krämpfen, saßen wir in den Praxen der Ärzte und warteten, dass irgend jemand den Aufstand niederwarf, der immerzu in meinem Magen tobte. Und schon damals klammerte ich mich in einer Art Panik an diese Ärzte und wollte, dass sie mich festhielten. Von Anfang an, so scheint es, habe ich nach meinem Vater gesucht, habe ich verzweifelt nach jemandem gesucht, der ihm ähnlich war.
    Spätere Erinnerungen: ein heftiges Verlangen. Stets bereit, beim kleinsten Vorwand die Tatsachen zu verleugnen, hoffte ich starrsinnig weiter, etwas zu erlangen, das mir nie zuteil wurde – oder nur so selten und willkürlich, dass es außerhalb der normalen Erfahrung zu liegen schien, an einem Ort, an dem ich nie mehr als ein paar Stunden verbringen konnte. Nicht dass ich das Gefühl hatte, er hätte mich nicht gern.
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