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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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grenzte. Ich fand sie unwiderstehlich, kostbar; für mich waren das heilige Reliquien. Es schien, als könnten sie mir Dinge erzählen, die ich vorher nicht gewusst hatte, als könnten sie irgendeine bis dahin verborgene Wahrheit enthüllen; intensiv betrachtete ich jedes einzelne, vergegenwärtigte mir die kleinsten Einzelheiten, die belanglosesten Schatten, bis alle diese Bilder ein Teil von mir geworden waren. Ich wollte nicht, dass irgendetwas verlorenginge.
    Der Tod nimmt dem Menschen seinen Körper. Im Leben sind der Mensch und sein Körper synonym; im Tod gibt es den Menschen, und es gibt seinen Körper. Wir sagen: «Dies ist der Körper von X», als ob dieser Körper, der einmal der Mensch selbst gewesen ist und nicht etwas, das ihn darstellte oder ihm gehörte, sondern eben dieser Mensch X, mit einem Mal keine Bedeutung mehr besäße. Wenn jemand ein Zimmer betritt und man ihm die Hand schüttelt, hat man nicht das Gefühl, man schüttelt seine Hand oder seinem Körper die Hand, sondern man schüttelt ihm die Hand. Der Tod ändert das. Dies ist der Körper von X, nicht: Dies ist X. Die Syntax ist völlig anders. Jetzt sprechen wir nicht mehr von einem , sondern von zwei Dingen, womit wir sagen wollen, dass dieser Mensch auch weiterhin existiert, aber nur noch als Idee, als eine Anzahl von Bildern und Erinnerungen in den Köpfen anderer Leute. Was den Körper anbetrifft, so ist der nur mehr Fleisch und Knochen, nichts als ein Haufen Materie.
    Die Entdeckung dieser Fotos war für mich wichtig, weil sie die physische Anwesenheit meines Vaters in der Welt aufs neue zu bestätigen schienen und mir die Illusion vermittelten, dass er noch da war. Die Tatsache, dass ich viele dieser Bilder, besonders die aus seiner Jugend, noch nie gesehen hatte, ließ das eigenartige Gefühl in mir entstehen, dass ich ihn jetzt erst kennenlernte, dass ein Teil von ihm erst jetzt ins Dasein träte. Ich hatte meinen Vater verloren. Zugleich aber hatte ich ihn gefunden. Solange ich diese Bilder vor Augen hatte, solange ich ihnen meine volle Aufmerksamkeit zuwandte, war es, als wäre er noch lebendig, selbst im Tode noch. Oder wenn schon nicht lebendig, so doch zumindest nicht tot. Oder noch genauer, irgendwie in der Schwebe, eingeschlossen in ein Universum, das nichts mit dem Tod zu tun hatte, zu dem der Tod überhaupt keinen Zutritt hatte.

    Die meisten dieser Bilder erzählten mir nichts Neues, doch halfen sie mir, Lücken zu füllen, Eindrücke zu bestätigen, Beweise zu finden, wo es vorher keine gegeben hatte. Zum Beispiel gibt eine Reihe von Schnappschüssen aus seiner Junggesellenzeit, wahrscheinlich über mehrere Jahre hinweg entstanden, genauen Bericht von gewissen Aspekten seiner Persönlichkeit, die in den Jahren seiner Ehe verschüttet gewesen waren und die ich erst nach seiner Scheidung wahrzunehmen begonnen hatte: mein Vater als Possenreißer, als Lebemann, als fröhlicher Gesell. Ein Bild ums andere zeigt ihn in Gesellschaft von Frauen, meist zweien oder dreien, die alle komische Posen einnehmen, sich in den Armen halten, zu zweit auf seinem Schoß sitzen oder ihm einen theatralischen Kuss geben, niemand anderem zuliebe als demjenigen, der das Bild aufnimmt. Im Hintergrund: ein Berg, ein Tennisplatz, vielleicht ein Swimmingpool oder eine Holzhütte. Bilder, die von gemeinsamen Wochenendausflügen mit seinen unverheirateten Freunden in verschiedene Urlaubsorte in den Catskills stammten: Tennis spielen, sich mit Mädchen amüsieren. So lebte er, bis er vierunddreißig wurde.
    Ein solches Leben passte zu ihm, und ich kann verstehen, wieso er nach dem Zerbrechen seiner Ehe wieder damit angefangen hat. Für einen Mann, der das Leben nur an der Oberfläche erträglich findet, ist es ganz natürlich, wenn er sich damit zufriedengibt, den anderen nicht mehr als diese Oberfläche zu bieten. Da sind wenig Ansprüche zu erfüllen, und Engagement ist nicht erforderlich. Die Ehe hingegen schlägt die Tür zu. Dann ist das Dasein auf einen engen Raum beschränkt, in dem man fortwährend gezwungen ist, sich zu offenbaren – und damit ständig in sich hineinzublicken, seine eigenen Tiefen zu erforschen. Wenn die Tür offensteht, gibt es nie Probleme: Man kann jederzeit die Flucht ergreifen. Man kann unerwünschten Konfrontationen mit sich oder mit anderen aus dem Weg gehen, indem man sich einfach aus dem Staub macht.
    Mein Vater verfügte über schier unbegrenzte Fähigkeiten, sich Leuten zu entziehen. Da die Sphäre des anderen für
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