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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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vermeiden. Er aß, er ging zur Arbeit, er hatte Freunde, er spielte Tennis, aber trotz alledem war er abwesend. Er war im tiefsten, im unabänderlichsten Sinn ein Unsichtbarer. Unsichtbar für andere, und höchstwahrscheinlich auch unsichtbar für sich selbst. Als er noch lebte, habe ich ihn ständig gesucht, habe ich mich ständig bemüht, den abwesenden Vater zu finden, und jetzt, da er tot ist, glaube ich noch immer nach ihm suchen zu müssen. Der Tod hat nichts geändert. Nur dass mir jetzt die Zeit knapp geworden ist.

    Fünfzehn Jahre lang hatte er allein gelebt. Beharrlich, unzugänglich, als wäre er der Welt gegenüber immun gewesen. Er schien kein Mensch zu sein, der Raum für sich beanspruchte, sondern eher ein Block undurchdringlichen Raums in Gestalt eines Menschen. Die Welt prallte von ihm ab, zerschellte an ihm, blieb zuweilen an ihm hängen – aber nie drang sie zu ihm durch. Fünfzehn Jahre lang hatte er ganz allein in einem riesigen Haus gespukt, und in diesem Haus war er gestorben.
    Kurze Zeit hatten wir dort als Familie gelebt – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. Nach der Scheidung meiner Eltern brach alles auseinander: Meine Mutter fing ein neues Leben an, ich wechselte aufs College, und meine Schwester wohnte bei meiner Mutter, bis auch sie zum Studieren fortging. Nur mein Vater blieb. Aufgrund einer Klausel im Scheidungsvertrag, nach der meiner Mutter noch immer ein Anteil an dem Haus gehörte und ihr im Falle eines Verkaufs die Hälfte des Erlöses zustand (was meinen Vater vom Verkaufen abhielt), oder aus irgendeiner insgeheimen Weigerung heraus, sein Leben zu ändern (um der Welt nicht zu zeigen, dass die Scheidung ihn auf eine Weise berührt hatte, mit der er nicht umzugehen vermochte), oder schlicht aus Trägheit, aus einer gefühlsbedingten Lethargie, die ihn hinderte, irgendeine Initiative zu ergreifen, blieb er ganz allein in einem Haus wohnen, in dem sechs oder sieben Menschen Platz gehabt hätten.
    Es war ein beeindruckendes Gebäude: alt, solide, im Tudorstil gebaut, mit bleigefassten Fenstern, einem Schieferdach und Räumen von fürstlichen Ausmaßen. Der Kauf war für meine Eltern ein großer Schritt gewesen, ein Zeichen wachsenden Wohlstands. Es lag im besten Viertel der Stadt, und wenngleich das Leben dort (besonders für Kinder) nicht angenehm war, stellte sein Prestigewert einen guten Ausgleich für die tödliche Langeweile dar, die dort herrschte. Angesichts der Tatsache, dass mein Vater den Rest seines Lebens in diesem Haus verbrachte, ist es schon eine Ironie, dass er sich anfangs geweigert hatte, dorthin zu ziehen. Er lamentierte über den Preis (ein Dauerthema), und als er schließlich nachgab, geschah es nur widerwillig und schlecht gelaunt. Dennoch zahlte er in bar. Alles auf einen Schlag. Keine Hypotheken, keine monatlichen Raten. Das war 1959, und seine Geschäfte gingen gut.
    Immer ein Gewohnheitsmensch, brach er frühmorgens zur Arbeit auf, schuftete den ganzen Tag, und wenn er dann (falls er nicht noch in die Nacht hinein arbeitete) nach Hause kam, legte er sich vor dem Abendessen zu einem kurzen Nickerchen hin. Irgendwann während unserer ersten Woche in dem neuen Haus, noch bevor wir richtig eingezogen waren, unterlief ihm ein kurioser Irrtum. Anstatt nach der Arbeit zu dem neuen Haus zurückzufahren, fuhr er, wie er es jahrelang getan hatte, direkt zum alten, parkte seinen Wagen in der Einfahrt, ging durch die Hintertür ins Haus, stieg die Treppe hoch, betrat das Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und schlief ein. Er schlief etwa eine Stunde. Überflüssig zu sagen, dass die neue Hausherrin, als sie bei ihrer Heimkehr einen fremden Mann in ihrem Bett entdeckte, nicht wenig überrascht war. Doch im Gegensatz zu Goldlöckchen sprang mein Vater nicht auf und lief davon. Die Verwirrung war bald beigelegt, und alle hatten etwas zu lachen. Ich muss noch heute darüber lachen. Und trotzdem, ich kann mir nicht helfen, aber im Grunde ist das für mich eine traurige Geschichte. Dass ein Mann versehentlich zu seinem alten Haus zurückfährt, ist eine Sache; eine ganz andere aber ist es, denke ich, wenn ihm gar nicht auffällt, dass alles darin sich verändert hat. Selbst im erschöpftesten oder zerstreutesten Kopf gibt es noch einen Winkel, der rein animalisch zu reagieren vermag und dem Körper ein Gefühl davon vermittelt, wo er sich befindet. Man müsste schon praktisch bewusstlos sein, um nicht zu sehen oder zumindest zu spüren, dass das Haus sich
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