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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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völlig verändert hat. «Gewohnheit», wie eine von Becketts Figuren sagt, «stumpft mächtig ab.» Und wenn der Geist unfähig ist, auf physische Erscheinungen zu reagieren, was wird er dann erst tun, wenn er mit psychischen Erscheinungen konfrontiert wird?

    Im Lauf dieser letzten fünfzehn Jahre hat er fast nichts in dem Haus verändert. Er hat keinerlei neue Möbel angeschafft, er hat keinerlei Möbel entfernt. Die Wände behielten dieselbe Farbe, Töpfe und Pfannen wurden nicht ersetzt, selbst die Kleider meiner Mutter wurden nicht weggeworfen – sondern in einem Wandschrank auf dem Dachboden verstaut. Gerade die Größe des Hauses sprach ihn davon frei, irgendwelche Entscheidungen über die darin befindlichen Dinge treffen zu müssen. Nicht dass er an der Vergangenheit hing und versuchte, das Haus als Museum zu konservieren. Im Gegenteil, er schien gar nicht zu merken, was er da tat. Nicht die Erinnerung leitete ihn, sondern Nachlässigkeit, und wenn er auch all die Jahre in diesem Haus weiterlebte, so doch im Grunde nur wie ein Fremder. Mit der Zeit hielt er sich immer weniger darin auf. Er nahm fast alle Mahlzeiten in Restaurants zu sich, arrangierte seine gesellschaftlichen Verpflichtungen so, dass er jeden Abend unterwegs war, und benutzte das Haus praktisch nur noch zum Schlafen. Vor einigen Jahren erwähnte ich ihm gegenüber einmal, wie viel Geld ich im vorangegangenen Jahr mit meinem Schreiben und Übersetzen verdient hatte (allenfalls ein Hungerlohn, aber mehr als je zuvor), worauf er amüsiert erwiderte, dass allein seine Ausgaben in Restaurants einen höheren Betrag ausmachen würden. Was ich damit sagen will: Das Haus, in dem er wohnte, war nicht der Mittelpunkt seines Lebens. Sein Haus war nur einer von vielen Haltepunkten in einem rastlosen, unvertäuten Dasein, und dieses Fehlen eines Zentrums machte ihn zu einem ewigen Außenseiter, zu einem Touristen in seinem eigenen Leben. Man hatte nie das Gefühl, dass er einen festen Platz haben könnte.
    Dennoch scheint mir das Haus wichtig, wenn auch nur insofern, als es vernachlässigt wurde – symptomatisch für einen Geisteszustand, der sich, ansonsten unzugänglich, in den konkreten Abbildern unbewussten Verhaltens offenbarte. Das Haus wurde zur Metapher des Lebens meines Vaters, zur exakten und getreuen Darstellung seines Innenlebens. Denn obwohl er das Haus in Ordnung hielt und mehr oder weniger so bewahrte wie einst, war es einem allmählichen und unausweichlichen Prozess der Auflösung ausgesetzt. Er war ein ordentlicher Mensch, er legte immer alles an seinen Platz zurück, nur pflegte er nichts, machte nie etwas sauber. Die Möbel, besonders in den Zimmern, die er selten betrat, waren bedeckt mit Staub und Spinnweben, Zeichen völliger Vernachlässigung; der Küchenherd war so verkrustet mit verkohlten Essensresten, dass nichts mehr daran zu retten war; im Speiseschrank verkam so manches jahrelang auf den Regalen: Mehlpackungen voller Ungeziefer, vergammelte Kräcker, Zuckertüten, die sich in feste Blöcke verwandelt hatten, Sirupflaschen, die sich nicht mehr öffnen ließen. Wenn er sich einmal selbst eine Mahlzeit zubereitete, erledigte er gleich im Anschluss gewissenhaft den Abwasch – aber nur mit Wasser, nie mit einem Spülmittel, so dass sämtliche Tassen, Untertassen und Teller mit einem schmuddeligen Fettfilm überzogen waren. Im ganzen Haus: Die Springrollos, die ständig herabgezogen blieben, waren so fadenscheinig geworden, dass sie beim leichtesten Zug zerrissen. Wasser tropfte von den Decken und machte Flecken auf die Möbel, die Heizung gab nie genug Wärme ab, die Dusche funktionierte nicht. Das Haus wurde schäbig, es zu betreten deprimierend. Man hatte das Gefühl, ins Haus eines Blinden zu kommen.
    Seine Freunde und Angehörigen spürten, wie verrückt sein Leben in diesem Haus war, und bedrängten ihn immer wieder, es zu verkaufen und woandershin zu ziehen. Doch stets gelang es ihm, sie mit einem unverbindlichen «Mir gefällt es hier» oder «Das Haus passt gut zu mir» abzuwimmeln. Am Ende jedoch hat er sich tatsächlich zum Umzug entschlossen. Ganz am Ende. Bei dem letzten Telefongespräch, das wir miteinander geführt haben, zehn Tage vor seinem Tod, erzählte er mir, das Haus sei verkauft, am 1. Februar, also in etwa drei Wochen, werde er ausziehen. Er wollte wissen, ob ich irgendetwas aus dem Haus gebrauchen könne, und ich erklärte mich bereit, am ersten freien Tag, der sich ergeben würde, mit meiner Frau und
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