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Die Gespenster von Berlin

Die Gespenster von Berlin

Titel: Die Gespenster von Berlin
Autoren: Sarah Khan
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Gläserrücken mit der Stasi
    Sie ist die Frau aus der Nachbarschaft, man trifft sie im Supermarkt, in der Schlange der Postfiliale. Sie ist wie Montag, wenn sie das Kind bringt, wie Dienstag, wenn sie in der Schwimmhalle ihre Bahnen zieht, wie Mittwoch, wenn sie das Kind holt, wie Donnerstag, wenn sie einkauft, und wie Freitag, wenn sie mit einem Kuchenpaket vom Konditor kommt. Wie von Schnüren gezogen kreuzen Stadtteil-Nachbarinnen ihre Stadtteil-Nachbarinnen, bis in alle Ewigkeit hätte es so bleiben können, bis es anders kommt und die Malerin Uta Päffgen bei der Vernissage von Cindy Sherman in der Galerie Sprüth Magers Berlin sagt: Gespenster suchst du? Dann frag Anne, die Frau kann Gespenster rufen, die hat einen unglaublichen Draht mit ihrer Methode. Und so verabredet man sich mit einer unbekannten Anne, sie öffnet und man steht vor niemand anderem als besagter Stadtteil-Nachbarin. Diese langen dunkelroten Haare, der brutal amüsierte Blick, das große Herz auf weiter Brust und der Duft der Kaffeetafel hinter ihrem Rücken aufsteigend. Diese Geschichte ist ein Geschenk der Schriftstellerin Anne Hahn, der Rotweinhexe von Mitte, der Burgfrau von Goseck, dem Magdeburger Medium. Danke.
    Eine übersinnlich veranlagte Frau bemerkt ihre Fähigkeiten schon früh in der Jugend und spielt damit herum. Eines Tages ist es dann so weit, sie bekommt eine höllische Angst und beschließt, den Unfug für immer sein zu lassen. Und doch ruft sie die Geister immer wieder, denn sie kann es nicht lassen. Anne wurde 1966 in Magdeburg geboren. AlsAnne zweiundzwanzig Jahre alt war und von allem tödlich gelangweilt, beschloss sie aus dem Land zu fliehen. Sie wusste ja nicht, dass die Tage der DDR gezählt waren, denn sie hatte die Geister fast nie nach ihrer eigenen Zukunft befragt. Das war zu heikel. Sie war auch nicht die Einzige in ihrem Freundeskreis, die sich mit Fluchtgedanken beschäftigte. Andere hatten Ausreiseanträge laufen und Angst vor schlechten Nachrichten. Auch musste immer mit Spitzeln gerechnet werden. Stell dir vor, der Geist sagt beim Gläserrücken in großer Runde, die Anne H. wird nächste Woche einen erfolgreichen Fluchtversuch hinlegen. Deshalb ging das nicht, den Blick in die eigene Zukunft zu wagen. Anne und ihre Freunde aber waren von den ausgefeilten, wundersamen Geschichten der Geister fasziniert. Einmal war ein Geist da, der Bertolt Brecht gekannt hatte, und ein andermal ein Kind, das immer auf dem rechten Knie vom lieben Gott saß. Das war unterhaltsam und lustig. Während die Realität und die nahe Zukunft für die jungen DDR-Bürger beides nicht war, weder unterhaltsam noch lustig. So also kam es, dass Anne die Geister nicht nach ihrem eigenen Schicksal befragte, sonst hätte sie sich die Flucht, die Festnahme und den DDR-Knast vielleicht erspart.
    Anne hatte damals in Magdeburg keinen Job, aber sie hatte Freunde. Die Freunde hatten Rotwein und der Rotwein hatte eine Kerze und die Kerze hatte ein Glas. Sie bildeten eine Runde, drehten das Glas um und stellten es in ihre Mitte auf einen Tisch. Dann legten sie ganz viele Zettel um das Glas: die Worte »ja« und »nein« und alle Buchstaben des Alphabets und die Zahlen eins bis hundert, jeweils in Zehnerschritten angeordnet. Jeder legte sachte einen Finger auf das Glas, dann begannen sie. Und wie toll es kribbelte, zuckelte und ruckelte, sobald Anne die Geister rief. Dann tanzte das Glas.
    Einmal hatten sie sofort jemanden drin, der sagte: SOS, SOS, SOS.
    »Wer braucht SOS?«
    Sie bekommen eine Zahl, noch eine Zahl, immer wieder die gleichen Zahlen. Jemand holt einen Atlas, überprüft die Zahlen an den Längen- und Breitengraden. Es war ein Punkt im Südatlantik. Die Rotwein trinkende Gläserrücker-Clique aus der Endphase der DDR in Magdeburg hörte am nächsten Tag in den Nachrichten, dass vor der Küste der Falklandinseln ein Schiff sank und die ganze Besatzung ertrank.
    Einmal riefen sie einen Geist und nichts geschah. Dann klopfte es an der Tür. Einer stand auf und öffnete, es war niemand zu sehen und doch trat jemand ein. Alle saßen kreisförmig im Schneidersitz auf hauchdünnen, alten, schiefen Dielen, und sie merkten, wie sich die Dielen unter dem Tritt des unsichtbaren, aber gewichtigen Gastes hoben und senkten, und sie hörten das Holz knarzen. Der Gast umrundete die Magdeburger mehrmals, jagte ihnen einen Höllenschrecken ein, dann ging er wieder. Alle wussten, dass es Anne war, die diese Kraft hatte, einen so dreisten Geist zu
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