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Die Gespenster von Berlin

Die Gespenster von Berlin

Titel: Die Gespenster von Berlin
Autoren: Sarah Khan
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Zwillingsmädchen abends allein zuhause bleiben mussten, mochte keines vom Hochbett klettern, um das Licht zu löschen. Keine wollte diejenige sein, die im Dunklen zurückhastete. Oft blieb das Licht an und auch das Radio, bis die Eltern zurückkamen. Das Hochbett war über viele Jahre die sichere Insel, die rettende Festung für die zwei blonden, furchtsamen Mädchen.
    Eines Tages vertraute die kleine Silke ihrer Mutter an, dass sie die Wohnung unheimlich fand. Die Mutter reagierte sehr ernst. »Über einer Künstlerwohnung liegt immer ein starker Geist«, sagte sie. So erfuhr Silke, dass in der Wohnung eine Schriftstellerin gelebt hatte, eine unglückliche Frau mit einem starken Gefühlsleben.
    Als Silke und Maria älter wurden, fühlten sie sich zu den Grufties hingezogen, von denen es schon einige in Ost-Berlin gab. Schwarz gekleidete junge Leute mit schwarz geschminkten Augenhöhlen, Kreuzen an langen Ketten, blutroten Lippen. Eine geträumte Beerdigungsgesellschaft, geeint in schwarz-weicher Traurigkeit. Es gab nicht viele Grufties in Ost-Berlin, aber genug, um auch zu wollen. Eine seltsame Fügung. Genügte ihnen der kalte Hauch nicht mehr? Was wollten sie noch von der anderen Seite? Die Zwillinge erbettelten sich schwarze Kleidungvom Vater, der Schiedsrichter-Trikots bestellen konnte, die einzige rein schwarze Kleidung, die es in der DDR zu kaufen gab. Maria nähte leidenschaftlich gern und schnitt aus alten Kleidern die schwarzen Einsätze heraus und fügte sie zu asymmetrischen, tief dekolletierten Blusen zusammen. Silke konnte dünne, lange Schals häkeln und Spinnweben aus Zwirn basteln, die sie in die Zimmerecken hängte. Silke war gemäßigter im Auftritt, eher New Romantic, Maria die Extremere. Maria machte sich mit Babypuder das Gesicht ganz weiß und malte die Augenhöhlen schwarz aus. Die DDR-Kosmetikserie »Action« bot beiden Schwestern den Spaß von schwarzem Nagellack und blutrotem Lippenstift. Mit Zuckerwasser brachten sie ihre Haare in Form und mit diesem nichtsozialistischen Aussehen traten sie vor die Tür. Der Friedhof wartete auf sie. Der halb verfallene, herrlich unheimliche, aufgelassene Friedhof vorne an der Greifswalder Straße, der Georgen-Parochial-Friedhof. Dort hockten sie auf den halb gekippten Steinplatten, umarmten weinende Engel und traurige Löwen, küssten gefaltete Hände aus Stein und besetzten die pompösen letzten Ruhestätten der einst wohlhabenden Berliner Familien aus dem 19. Jahrhundert. Laut lasen sie die Sprüche auf den Grabsteinen: »Sie war ein treues Frauenherz, im Glück bescheiden, still im Schmerz. Ruhe sanft!« – »Was unser Vater uns gewesen, Das sagt nicht dieser Leichenstein; Doch Mit- und Nachwelt sollen lesen, Dass wir auf ewig Dank ihm weihen.« Hier sangen sie die Refrains der Lieder von The Cure: Why can’t I be you? Why can’t I be you? Manchmal trafen sie auch andere Grufties, mit denen tranken sie Pfefferminztee aus der Thermoskanne, sprachen über ihre Haare und wie man sie am besten toupieren kann, und dann knutschte der eine mit der anderen unddann weinten sie, weil sie sich nicht tief im Herzen lieben konnten und der Schmerz sich banal anfühlte. Wie morbid das Leben sein kann, wenn man endlich kein Kind mehr ist. In diese Gruftie-Phase nun fallen die seltsamen Erfahrungen, die Silke und ihr Zwilling Maria mit den Gespenstern von Berlin machten. Denn Silkes Zwillingsschwester Maria, die impulsive, selbstsichere Maria, nahm eines Tages ein kleines abgebrochenes Grabkreuz vom Friedhof mit nach Hause. Sie legte es auf ihren Schreibtisch.
    An dieser Stelle gehen wir kurz zurück in das französische Café an der Chausseestraße, wo Silke sitzt und von dieser Sache erzählt. Interessanterweise erwähnt sie das entwendete Grabkreuz erst ganz am Schluss ihrer Geschichte, nachdem sie von diversen anderen Spukereignissen berichtet hatte. Ereignisse, die hier noch nicht zur Sprache gekommen sind. Zuallerletzt kommt die Rede auf das Kreuz, und auch nur kurz. Als wäre das etwas, das zwar erwähnt werden muss, aber so, dass der Gedanke an einen Zusammenhang von geklautem Kreuz und Spuk gar nicht erst aufkommt. Dabei schien gerade das so nahezuliegen. Dass Silke es nicht wahrhaben wollte, ist natürlich verständlich. Doch jetzt, wo sie erwachsen ist, respektiert sie die Grenze, die ein Friedhof darstellt. Damals aber, in ihrer Ostberliner Jugend, waren die Toten und die Grufties eine kleine, verschworene Partygemeinschaft. Der alte, stillgelegte
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