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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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ihn unwirklich war, unternahm er seine Ausflüge dorthin mit einem Teil von sich, den er für gleichermaßen unwirklich hielt, mit einem zweiten Ich, das er als Schauspieler ausgebildet hatte, der ihn in der schalen Komödienwelt der Allgemeinheit vertreten musste. Dieses Stellvertreter-Ich war im wesentlichen ein Schalk, ein hyperaktives Kind, ein Erfinder von Lügengeschichten. Es konnte nichts ernst nehmen.

    Da nichts für ihn zählte, erlaubte er sich die Freiheit zu tun, was er wollte (sich in Tennisklubs einschleichen, einen Restaurantkritiker spielen, um eine Gratismahlzeit zu ergattern), und eben der Charme, mit dem er seine Siege errang, machte diese Siege wertlos. Eitel wie eine Frau verhehlte er die Wahrheit über sein Alter, erfand Geschichten über seine geschäftlichen Transaktionen, sprach von sich selbst nur indirekt – in der dritten Person, als erzählte er von einem Bekannten («Ein Freund von mir hat ein gewisses Problem; was würden Sie ihm raten? …»). Wann immer es ihm zu brenzlig wurde, wann immer er meinte, er sei zu nahe daran, sich zu verraten, entwand er sich mit einer Lüge. Am Ende geschah das ganz automatisch, und er log um des Lügens willen. Sein Grundsatz war es, so wenig wie möglich zu sagen. Wenn die Leute nie die Wahrheit über ihn erfuhren, konnten sie sie später auch nicht gegen ihn verwenden. Mit dem Lügen konnte er sich Schutz erkaufen. Wenn er vor den Leuten erschien, sahen sie also nicht ihn, sondern eine Person, die er erfunden hatte, ein künstliches Wesen, das er manipulieren konnte, um andere zu manipulieren. Er selbst blieb unsichtbar, ein Puppenspieler, der von einem dunklen, abgelegenen Platz hinter dem Vorhang die Schnüre seines Alter Ego bediente.
    In den letzten zehn oder zwölf Jahren seines Lebens hatte er eine feste Freundin; das war die Frau, die ihn in der Öffentlichkeit begleitete und die Rolle seiner offiziellen Lebensgefährtin spielte. Ab und zu war (auf ihr Betreiben) vage von Ehe die Rede, und jedermann glaubte, sie sei die einzige Frau, mit der er etwas zu tun habe. Nach seinem Tod jedoch meldeten sich auch noch andere Frauen. Diese hatte ihn geliebt, jene hatte ihn angebetet, eine andere hatte ihn heiraten wollen. Die feste Freundin war entsetzt, als sie von diesen anderen Frauen erfuhr: Mein Vater hatte sie ihr gegenüber nie mit einem Wort erwähnt. Jeder hatte er eine andere Rolle vorgespielt, und jede glaubte, ihn ganz für sich allein besessen zu haben. Wie sich herausstellte, hatte keine von ihnen ihn richtig gekannt. Es war ihm gelungen, sich ihnen allen zu entziehen.

    Einsam. Doch nicht im Sinne von Alleinsein. Nicht einsam wie Thoreau zum Beispiel, der freiwillig ins Exil ging, um herauszufinden, wer er war; nicht einsam wie Jona, der im Bauch des Wals um Erlösung betete. Einsam im Sinne von zurückgezogen. Um sich nicht sehen zu müssen, um sich nicht von anderen betrachten lassen zu müssen.
    Es war schwer, mit ihm zu reden. Entweder war er abwesend (und das war er meistens), oder er überfiel einen mit einer schrillen Witzigkeit, die nur eine andere Form der Abwesenheit darstellte. Es war, als versuchte man sich einem senilen alten Mann verständlich zu machen. Man redete, und es kam keine Antwort, oder eine unpassende, die lediglich zeigte, dass er gar nicht richtig zugehört hatte. Wann immer ich in den letzten Jahren mit ihm telefonierte, redete ich am Ende mehr als gewöhnlich, wurde aggressiv geschwätzig, plauderte in dem vergeblichen Streben vor mich hin, seine Aufmerksamkeit zu fesseln und ihm eine Reaktion zu entlocken. Hinterher kam ich mir jedes Mal wie ein Idiot vor, weil ich mich so angestrengt hatte.
    Er rauchte nicht, er trank nicht. Kein Hunger nach sinnlichen Genüssen, kein Durst auf intellektuelle Erquickung. Bücher langweilten ihn, und es gab nur wenige Filme oder Theaterstücke, bei denen er nicht einschlief. Sogar auf Parties konnte man ihn beobachten, wie er darum kämpfte, die Augen offenzuhalten, und nicht selten schlief er dann doch in einem Sessel ein, während um ihn herum die Gespräche schwirrten. Ein Mann ohne Bedürfnisse. Man hatte das Gefühl, nichts könnte je in ihn eindringen, er habe keinerlei Lust auf irgendetwas, das die Welt zu bieten hatte.

    Hochzeit mit vierunddreißig. Scheidung mit zweiundfünfzig. In gewisser Weise hat es Jahre gedauert, in Wirklichkeit waren es aber nur ein paar Tage. Er war nie ein verheirateter Mann, nie ein geschiedener, sondern lebenslang ein Junggeselle, der
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