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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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Sondern er schien einfach abgelenkt, unfähig, in meine Richtung zu sehen. Und mehr als alles andere wollte ich, dass er Notiz von mir nahm.
    Alles, selbst das kleinste Zeichen, war mir recht. Als die Familie zum Beispiel einmal an einem Sonntag ein überfülltes Restaurant besuchte und wir auf einen Tisch warten mussten, ging mein Vater mit mir nach draußen, nahm einen Tennisball (woher?), legte einen Penny auf den Bürgersteig und begann mit mir zu spielen: den Penny mit dem Tennisball treffen. Da kann ich kaum älter als acht oder neun gewesen sein.
    Im nachhinein wirkt das überaus trivial. Und doch war ich damals von Glück überwältigt, dass ich mitmachen durfte, dass mein Vater mich zwanglos gebeten hatte, seine Langeweile mit ihm zu teilen.
    Die Enttäuschungen überwogen freilich. Eben noch schien er sich verändert, sich ein wenig geöffnet zu haben, und gleich darauf war er schon wieder nicht mehr da. Ein einziges Mal war es mir gelungen, ihn zu überreden, mich zu einem Football-Match mitzunehmen (die Giants gegen die Chicago Cardinals, entweder im Yankee Stadium oder in den Polo Grounds, ich hab’s vergessen), aber mitten im vierten Viertel erhob er sich plötzlich von seinem Sitz und sagte: «Wir müssen jetzt gehen.» Er wollte «der Menge zuvorkommen», um nicht im Verkehr steckenzubleiben. Ich konnte ihn durch nichts zum Bleiben bewegen, und so gingen wir, einfach so, während das Spiel noch auf Messers Schneide stand. Schauerliche Verzweiflung, als ich ihm über die Betonrampen folgte, und noch schlimmer dann auf dem Parkplatz, umtost vom Lärmen der unsichtbaren Menge.
    Man konnte nicht darauf bauen, dass er wusste, was man wollte, dass er ahnte, was in einem vorgehen mochte. Die Tatsache, dass man es ihm sagen musste, verdarb einem das Vergnügen schon im Voraus, zerstörte die erträumte Harmonie, bevor auch nur ein Ton gespielt war. Und selbst wenn man es ihm dann sagte, war noch längst nicht ausgemacht, dass er einen auch verstehen würde.

    Ich erinnere mich an einen Tag, der dem heutigen ganz ähnlich war. Ein vernieselter Sonntag, im Haus alles still und lethargisch: die Welt auf halber Geschwindigkeit. Mein Vater machte ein Nickerchen oder war gerade daraus erwacht, und aus irgendeinem Grund saß ich neben ihm auf dem Bett, nur wir beide allein im Zimmer. Erzähl mir eine Geschichte. So muss es angefangen haben. Und da er nichts anderes zu tun hatte, da er noch in der Schläfrigkeit des Nachmittags vor sich hindöste, tat er mir den Gefallen und erzählte mir ohne lange Umschweife eine Geschichte. Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran. Als käme ich gerade erst aus diesem Zimmer, mit seinem grauen Licht und den zerwühlten Decken auf dem Bett; als könnte ich, einfach indem ich meine Augen schlösse, jederzeit wieder dort hineingehen.
    Er erzählte mir von seiner Zeit als Prospektor in Südamerika. Eine sehr abenteuerliche Geschichte, voller tödlicher Gefahren, haarsträubender Rettungen und unwahrscheinlicher Glücksfälle: wie er sich mit der Machete durch den Dschungel schlug, mit bloßen Händen gegen Banditen kämpfte, seinen Esel erschoss, als der sich ein Bein brach. Seine Sprache war blumig und gewunden, vermutlich ein Nachhall der Bücher, die er als Junge gelesen hatte. Aber eben dieser literarische Stil hat mich verzaubert. Er erzählte mir nicht nur Neues von sich selbst und entschleierte mir die Welt seiner fernen Vergangenheit, sondern erzählte all das mit neuen, ungewohnten Worten. Diese Sprache war genauso wichtig wie die Geschichte selbst. Sie gehörte dazu und war in gewissem Sinne nicht davon zu unterscheiden. Eben ihre Fremdheit war der Beweis für die Authentizität der Geschichte.
    Mir kam gar nicht in den Sinn, dass dies eine erfundene Geschichte sein mochte. Noch Jahre danach habe ich sie geglaubt. Selbst als ich längst so weit war, es besser wissen zu können, hatte ich noch das Gefühl, es könnte etwas Wahres daran sein. Sie hatte mir etwas gegeben, das ich mit meinem Vater verbinden konnte, und das wollte ich nicht aus der Hand lassen. Endlich hatte ich eine Erklärung für sein rätselhaftes Ausweichen, für seine Gleichgültigkeit mir gegenüber. Er war eine romantische Gestalt, ein Mann mit einer dunklen und aufregenden Vergangenheit, und sein gegenwärtiges Leben war nur eine Art Haltestelle, wo er wartete, bis er zu seinem nächsten Abenteuer aufbrach. Inzwischen arbeitete er an seinem Plan, rechnete sich aus, wie er an das Gold kommen könnte,
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